Kein Schuss auf den Russ

Der „Westen“ hat sich längst aus dem Spiel mit Russland verabschiedet. Der „Westen“, das ist heute vor allem Zweifel und Selbstzweifel, Mikro-Interessen und endloses Palaver.

Der amerikanische Konflikt- und Zukunftsforscher Bueno des Mesquita analysiert seit Jahrzehnten internationale Konflikte und erstellt Prognosen über deren Verlauf. Bislang war er damit erstaunlich erfolgreich. So sagte er den Ausgang der Klima-Konferenzen korrekt voraus. Schon vor zehn Jahren behauptete er, dass das Regime im Iran keine Atombombe will, sondern nur bis zu einer bestimmten Kapazität voranschreiten wird. Der Mann berät amerikanische Geheimdienste. Was einen durchaus beruhigen kann.

Mesquita arbeitet mit Methoden der probabilistischen Spieltheorie, die seit der Kubakrise halfen, den atomaren Weltuntergang zu vermeiden. Er analysiert Stärken, Verbindungen und Interessen der Akteure und füttert sie in ein Computerprogramm. Die Methode geht davon aus, dass Macht analysierbar und das Spiel nach bestimmten heuristischen Regeln gespielt wird. Irrationalität kann auftauchen, führt aber kaum zu einem anderen Ergebnis.

Kann man mit solchen Methoden tatsächlich die Zukunft des Krim-Konflikts bestimmen? Bis zu einer hohen Wahrscheinlichkeit durchaus. Darüber hinaus müssen wir noch andere Beobachtungen zweiter Ordnung einfließen lassen, um ein ganzes Bild zu bekommen.

Der Soziologe Gunnar Heinsohn hat in seiner „Youth-Bulge“-These den Strukturwandel des Krieges beschrieben. Die Zerstörung tobt heute dort, wo junge, arbeitslose, „überzählige“ Männer aus kinderreichen Familien ihre Aggressionen in Fanatismen umformen. Die Kriege der Welt finden in den Ländern mit hohen Geburtenraten, in failed States ohne Strukturen statt. Sie werden mit Macheten oder rostigen Kalaschnikows ausgetragen, getrieben von ethnischem Hass. Auf dem Rückzug befinden sich hingegen große, organisierte, innerstaatliche Kriege.

Aber ist die Welt heute nicht trotzdem genau wie 1914 – ein Pulverfass? Gab es nicht auch damals Beschwichtiger, die mit der Begründung der Welt-Verflechtung nicht an den Krieg glaubten? Es stimmt schon: Die russische Gesellschaft befindet sich im freien Fall in eine nostalgisch-nationale-paranoide Regression. Aber diesem Impuls steht keine ähnliche Gegenkraft gegenüber. Dem Pulver fehlt der Zünder. Denn der „Westen“ hat sich längst aus dem Spiel verabschiedet. Der „Westen“, das ist heute vor allem Zweifel und Selbstzweifel, Mikro-Interessen und endloses Palaver. In den deutschen Talkshows sitzen russische Hardliner, denen höflich recht gegeben wird. Was den Krieg verhindern wird, ist das Wirken der Gleich-Gültigkeit: Alles ist wahr. Die Frühlingsdiät steht an. Was macht eigentlich Heidi Klum? Kann man nicht den Russen die Krim geben – und alle Länder, die sie noch gerne hätten? So hört man es allerorten.

Jeder Schuss ein Russ. Jeder Stoß ein Franzos. Serbien muss sterbien. Solche Hass-Lieder sangen im Jahr 1914 selbst die Intellektuellen. Was immer man über die russische Entwicklung denkt: Ethnischer Hass spielt dort kaum eine Rolle. Es geht um Symbole, Stolz, Katharsis, Heimat, verschmähte Liebe. Nicht um Expansion. Kriege im großen Maßstab brauchen aber mehrschichtige emotionale Formierungs- und Mobilisierungsprozesse. Nein, die Geschichte wiederholt sich nicht. Zukunft entsteht als paradoxe Schleife. Das Alte kehrt zurück, aber nie so, wie es war. Darauf immerhin ist einigermaßen Verlass.

Berliner Zeitung, 20. März 2014

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