Was ist nur aus dem Liberalismus geworden? In Österreich versuchen ihn die NEOS auf überraschende Weise wiederzubeleben.
Was machen eigentlich die Liberalen? In Deutschland haben sie sich in ihre Leberwurst-Schützengräben zurückgezogen. Wir hatten recht, aber niemand versteht uns, es lag wohl am Personal. In Österreich aber kann man nun den Aufstieg einer Partei neuen Typs erleben. Die NEOS eilen von Wahlsieg zu Wahlsieg, übertrumpfen die Grünen und greifen sogar das Wählerpotenzial der rechten FPÖ an.
Jahrelang war der einfachste Weg, sich der Komplexität der Welt zu entziehen, etwas als neoliberal zu denunzieren. Die NEOS aber wollen genau das: Liberalismus auf den aktuellen Stand bringen, ihn sowohl aus der Wischiwaschi-Falle als auch aus der arroganten Klientelecke herausbringen. Dazu muss man mit alten Dogmen aufräumen. Etwa, dass der Staat ein Teufel sei und der Markt immer recht hat. Oder dass Ökologie etwas für Träumer sei. Die Neos haben verstanden, dass viele Wähler sich nicht mehr im Entweder-oder bewegen wollen. Wachstum oder grüner Umbau? Schwulentoleranz oder Familie? Individualität oder Gemeinwohl? Markt oder Staat? Europa oder Region? Neue Synthesen müssen her, in dem das eine zum anderen kommt, sich ergänzt und verstärkt. Nichts anderes ist Fortschritt.
Die NEOS sprechen ein weites Spektrum urbaner, gebildeter Wähler an, Junge und Alte, die sich in den alten Parteimilieus und deren populistischen Schattenbildern nicht mehr wohlfühlen. Menschen, die Wandel als Lebenselixier verstehen. Unternehmer, Kreative, Künstler, Zweifler, bürgerliche Wanderer zwischen verschiedenen Milieus, die sich nicht irgendeinem Stand, auch nicht dem Mittelstand, verpflichtet fühlen. Anders als die Wirtschaftsliberalen im FDP-Stil werden sie in der Start-up- und Internetszene nicht als Aliens mit Aktentasche wahrgenommen, sondern stammen aus ihr. Ihre Politikformen erinnern bisweilen an Aktionskunst. Einer der NEO-Gründer etwa ließ sich beim österreichischen Staat als religiöser Träger eines Spaghettisiebes registrieren – eine raffinierte antireligiöse Performance.
Warum ausgerechnet in Österreich, diesem wahrhaftig nicht mit innerem Liberalismus gesegneten agrarisch-katholisch geprägten Kleinstaat? In diesem doppelt konservativen Land sind die Rechts-Links-Lager schon seit Jahrzehnten in Besitzstandsteilung erstarrt. Dagegen setzen die Neos eine neue Leichtfüßigkeit, die sich nicht mehr am Gegner und seinen Schwächen orientiert, sondern Diskurse nach vorne führen möchte: Über Demokratie, Staat, Zivilgesellschaft, vernetzte Individualität, Innovation, Vielfalt, ein Neues Europa.
Einen solchen Ansatz bräuchten wir dringend auch in den großen Ländern. Unschwer zu erkennen ist, dass das Liberale allerorten den Bach heruntergeht. Nicht nur in Russland, wo sich wieder einer Hochverratgesellschaft formiert hat, in der alles Eigene, Kritische, Zivile attackiert wird. Auch hierzulande spürt man die Wiederkehr einer Formierungssehnsucht, die das Heil in alten Gewissheiten sucht, im Ressentiment gegen „die Reichen“, in überbordender Nostalgie nach Werten und Normen. In einer Zeit, in der das Linke so reaktionär (und ratlos) ist wie das Rechte, wünscht man sich sehnsüchtig eine Politik der Zukunft. Grün sein kann inzwischen jeder. Neo wäre noch ein echtes Abenteuer.
Berliner Zeitung, 02. April 2014