Wie uns die aktuellen Turbulenzen den Weg in die Zukunft weisen können
Ein Essay von Matthias Horx
© Alamy: Melancholia (Lars von Trier)
Das Ende der Welt, wie wir sie kennen, ist nicht das Ende der Welt.
Zitiert nach Nathalie Knapp,
Der unendliche Augenblick – warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind.
Wer jemals eine echte Ehe- oder Beziehungskrise erlebt, und auf einer neuen Ebene den Partner und geliebten Menschen wiedergefunden hat, weiß, wie erhellend es sein kann, wenn man dem Wort „Krise” eine andere Bedeutung gibt. Und die Panik, die damit verbunden ist, dass etwas infrage gestellt ist, überwindet. Dabei gibt einen feinen Unterschied zwischen „überstehen” und „durchleben”.
Beim simplen Überstehen einer Krise ist danach alles wieder beim Alten. Und das bedeutet, dass die nächste Katastrophe schon vor der Tür lauert. Erst, wenn wir uns in der Krise selbst transformieren – uns mit uns selbst konfrontieren, uns neu erfinden – löst sich die Krise in Richtung Zukunft. Wie wäre es, wenn dieses Prinzip auch mit der Welt als Ganzes funktioniert? Wenn wir DURCH die Krisen des Heute in die Möglichkeiten der Zukunft schauen könnten?
Leben wir wirklich in einem desolaten Zeitalter? Der Weltfriede, die Demokratie, die Ersparnisse, die Renten, die Natur, Terror, das Klima… alles scheint irgendwie zur Disposition zu stehen. Keine Talkshow, kein Titelthema zur besten Sendezeit, keine Kneipendiskussion, in der nicht der große apokalyptische Seufzer in der Luft läge. Auch die alten Ordnungskonzepte von Links und Rechts scheinen längst nicht mehr als Orientierung in Richtung Zukunft zu taugen.
Aber ist das wirklich neu? „Zanklust lag in der Luft. Kriselnde Gereiztheit. Namenlose Ungeduld. Eine allgemeine Neigung zum giftigen Wortwechsel, zum Wutausbruch, ja zum Handgemenge.” So heisst es in Thomas Manns „Zauberberg”. Szenen aus einem Sanatorium, das sich derzeit auf die ganze Gesellschaft auszubreiten scheint.
Atmen wir einmal tief durch.
Für die meisten unserer Vorfahren war das Leben eine EINZIGE Krise, eine andauernde Katastrophe. Sie mussten kämpfen, lebenslang, um das Nötigste, um den Erhalt und Zusammenhalt ihrer Familien, um den Wohlstand, der niemals mehr war als eine dünne Decke. Sie hatten kein Burnout und keine midlife crisis, keine Laktose-Intoleranz und kein #regrettingmotherhood-Syndrom. Nachdem die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, nahten Alter und Tod.
Vor 45 gab es keine Generation, die nicht von schrecklichen Kriegen heimgesucht wurde, von politischen Krisen ohne Ende. Selbst im ach so harmonischen „Wirtschaftswunder” war die Welt alles andere als sicher. In der atomaren Hochrüstung hätte, wie die wunderbare Fernsehserie „Deutschland 83” zeigt, jederzeit das Ende der Welt eintreten können – ganz real, nicht nur in Talkshows. In den 80ern und 90ern, gab es jede Menge Kriege überall auf dem Planeten. Aber die „Killing Fields” in Asien, Südamerika, Afrika, waren weit weg.
Eine Million Tote im Krieg Iran-Irak. Zwei Millionen Tote im Bürgerkrieg vom Kongo – wo liegt das überhaupt? Allein Maos Kulturrevolution kostete 20 Millionen Tote – wir hatten keine Ahnung. Und wollten es auch gar nicht. Es gab ein HIER und ein DORT. Talkshows waren noch keine Veranstaltung zum gegenseitigen Anschreien und Rechtbehalten. Opfer von Kriegen machten sich nicht auf die Wanderschaft, sondern starben still.
Was sich verschlechtert hat, ist nicht die Welt selbst. Sondern unsere Fähigkeit, die Dinge einzuordnen in einen sinnhaften Kontext. Es fällt uns schwer, zu unterscheiden: Zwischen Wichtigem und Unwichtigem. Nah und Fern. Geräusch und Substanz. Skandal und Wirklichkeit. Wandel und Katastrophe. Dem, was wir beeinflussen können. Und dem, was wir womöglich ertragen müssen. Mehr als eine echte Krise haben wir heute eine mentale, eine KOGNITIVE Krise; eine Art kollektiver Nervenschwäche, angeheizt durch die nervöse Struktur des Internets, das wie ein unendlicher Verstärker von Erregungen funktioniert.
Was bei all dem Getöse und Gemeine aus dem Blickfeld gerät, ist das, worauf wir stolz sein können. Das, was auf faszinierende Weise alltäglich funktioniert. Das tägliche Leben. Die Demokratie, trotz allem. Die Familien, die Zivilgesellschaft, die Solidarität, die sich eben doch in unserem Sozialstaat zeigt. Unsere Errungenschaften werden im Erregungs-Tumult auf fatale Weise unsichtbar.
Menschen, die ihre Segnungen, ihre blessings, ihre großen und kleinen Erfolge, nicht anerkennen können, werden früher oder später depressiv. Oder bösartig. Meistens beides. Auch früher gab es Ängste. Aber nicht jeder SCHRIE sich jeden Tag seine Ängste und Befindlichkeiten gegenseitig in die Ohren. Und glaubte auch noch, damit etwas besonders Gutes und Gerechtes zu tun.
Wenn in den 80er Jahren ein Land wie Griechenland Staatsschuldenprobleme gehabt hätte, wäre das ein-zweimal in einer langweiligen Wirtschaftssendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens aufgetaucht. Es hätte keine allabendlichen TV-Tribunale mit Titeln wie „Lügengriechen – Pleitestaaten – zahlt der Kleine Mann die Zeche?” zur besten Sendezeit gegeben.
Als unlängst der rassistische Mob anfing, auf die Strasse zu gehen, wurde dies durch die Resonanz der Medien unendlich verstärkt. Auf jeden Rechtsradikalen und Empörungsbürger , auf jeden Trump-Brüller kommen – so hat man manchmal das Gefühl – zwei Kameras, drei aufgeregte Reporter, vier mahnende Feuilletonisten, zehn Talkshows, in denen die Unmöglichkeit von Lösungen inszeniert wird und tausend hyperventilierende Erregungs-Plattformen im Internet.
Joseph Joffe, einer der Herausgeber der Zeit, gestand neulich in einem Artikel die Mit-Verantwortung der Medien ein: „Die Medien sind die besten Freunde der Außenseiter, die sich nun in der Bühnenmitte spreizen. Denn TV und Print schenken ihnen das höchste politische Gut überhaupt: Aufregung und Aufmerksamkeit… Die Medien fungieren als beste Wahlhelfer, weil sie die Leute mit Trump-Storys geradezu „bombardieren“. Wer durch alle Wohnzimmer tobt, setzt sich in den Köpfen fest.” (DIE ZEIT, 26.03.)
Europa
Was auch immer passiert, Europa liegt wie ein mehrfingeriger Fortsatz des eurasischen Kontinents im Atlantik und am Mittelmeer. Dort wird es bleiben, bis in alle Ewigkeit. Denn Europa ist, man staune, in Wahrheit unzerstörbar. Auch wenn wir es hundert Mal als „zerbröselnd” oder „prekär”, „chaotisch” oder „enttäuschend” deklarieren.
Europa hatte nach Jahrhunderten Mord und Totschlag glückliche, euphorische Jahre, nachdem es sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf der richtigen Seite der Geschichte wiederfand – der des Fortschritts und der Versöhnung. Jede Menge Glückshormone wurden ausgeschüttet, gigantische Feste gefeiert, begeisterte Reden geschwungen. Das Jahr 1989 war wie eine rauschhafte Hochzeit mit anschließenden Flitterwochen. Alles schien für immer gut und harmonisch. Honey Moon eben.
Aber wie eine Ehe befindet sich auch Europa mitten in einer komplexen, turbulenten Welt. Wie in einer guten Beziehung muss man Entscheidungen treffen, die nicht immer einfach sind (Das ist in gewisser Weise der SINN von Beziehung!).
In einem komplexen Staatengebilde wie der EU kann es keine Statik geben. Europa ist work in progress, Dauerbaustelle. Gesetze, Regeln, Rückkoppelungen (demokratische „Schleifen”) müssen ständig neu entwirrt und angepasst werden. In Bewährungsproben verlangt das System nach Komplexitätssprüngen. Wie jetzt, wo Europa ein gemeinsames System für seine Aussengrenzen, seine kontinentale Integrität, seinen Kampf gegen den Terror entwickeln muss.
In privaten Beziehungen fallen wir oft in Kindheitsmuster zurück, wenn die Dinge schwierig werden. Das nennt sich Regression. So etwas scheint auch für den europäischen Prozess zu gelten. Die östlichen Länder erleben eine Re-Traumatisierung ihrer Souveränitätsfrage: Sie empfinden humanitäre Normative als Angriff auf ihre Autonomie, die ihnen lange Zeit von der Weltgeschichte verweigert wurde.
Spielen wir ruhig einmal durch, was passiert, was die politischen Journalisten unentwegt unterstellen: dass Europa zerfällt. Es könnten sich zum Beispiel die Südstaaten abspalten, weil sie keine „Austerität” mehr wollen. Oder die Ost-Staaten haben es satt haben, sich dauernd moralisch belehren zu lassen zu. Oder einzelnen Länder wie Ungarn oder Grossbritannien spalten sich ab. Scheidungsgründe sind immer vielfältig, Heiratsgründe (scheinbar) eindeutig.
Wäre das das „Ende Europas”? Man sässe danach ja immer noch im gleichen Boot, wohnte im selben Kontinent. Es gäbe weiter eine Wirtschaft, die über nationale Grenzen hinweg agieren muss. Es gäbe interkulturelle Bindungen, Mobilität. Sofort würden hektische bilaterale oder multilaterale Verhandlungen beginnen. Man müsste den Grenzverkehr regeln. Den Warenverkehr. Binationale Ehen. Heere von Diplomaten und Bürokraten würden einzelne Verträge aushandeln. Plötzlich stünde die verhasste Brüsseler Bürokratie ziemlich effektiv da: Im Verhältnis zum Tohuwabohu der neuen Verhandlungen wäre sie geradezu schlank und schön.
Oder nehmen wir an, der schlecht gelaunte Nationalismus würde in einem Land die Macht ergreifen. Marie le Pen wird Präsidentin von Frankreich. Könnte es nicht sein, dass sich die ÜBRIGEN Länder umso enger verbünden – im Sinne einer deutlichen europäischen Idee? Man lässt sich nicht so gerne dauerhaft beschimpfen und beleidigen von Leuten, die ihre Kultur für grenzenlos überlegen halten und über Atomwaffen verfügen.
Also, Marie – zeig uns, wer wir sind!!!
Natürlich würde es bei all diesen Prüfungen ein titanisches Untergangsgeschrei geben. Und jedes Mal würde Europa weitergehen, sich aufrappeln, zusammenraufen, umformatieren. Wer einmal den Globus dreht, weiss, warum das so ist. Im Kontext der neuen Globalisierung wird Europa durch die sanfte Macht seines inneren Chaos in die Zukunft getrieben.
Der Krieg in Syrien
Dieser Krieg hat verdammt viel zu erzählen: Von den Restbeständen des osmanischen Reiches, von den nationalen Grenzziehungen des Kolonialismus, die nun zerbrechen, bin hin zu den religiös-kulturellen Spannungen eines Großraums, der bislang nur aus einzelnen Diktaturen und Scheichtümern bestand.
Der Irak-Krieg war nichts anderes als ein amerikanischer Hysterieanfall mit fatalen Auswirkungen. Verloren wurde er gleich in mehreren Dimensionen: Politisch, mental, kulturell. In der Tat ähnelt der Nahe Osten heute dem Europa des Dreissigjährigen Krieges, als jeder gegen jeden kämpfte. Aber im Unterschied zum Europa des 15. und 16. Jahrhunderts, der Vor-Nationalzeit, existieren heute die zähen Geflechte der globalen Diplomatie. Im molekularen Bürgerkrieg der Vergangenheit gab es keine UN, keine multinationalen Organisationen, keine NGOS, kein Internet, keine internationalen Verkehrswege, keinen Massentourismus an der türkischen Küste. Heute zwingt das vernetzte Weltsystem jeden Konflikt irgendwann in eine Lösung, in der aus einem Minus-Summenspiel zumindest ein contained conflict wird. Gerade WEIL so viele Player am Tisch sitzen, die sich gegenseitig belauern, belagern, austricksen, übervorteilen wollen.
Nach den Gesetzen der Spieltheorie dauern Kriege so lange, wie ein oder mehrere Spieler auf dem Schlachtfeld noch einen Vorteil erwarten. Am Ende wird die Erschöpfung herrschen, auch beim IS, der nichts anderes ist als ein kollektives Selbstmordkommando, dessen medienverstärkte Macht wir permanent überschätzen. Durch den Syrienkonflikt hindurch zeigt sich schon heute schemenhaft eine neue, multipolare Weltordnung, in der vielfältige Kooperationen durch Komplexitätsgesetze erzwungen werden. Neue Ordnungs-Mächte sind am Entstehen, regionale „Player”, die Interessen bündeln und strategische Bündnisse zu schliessen vermögen. Dass diese Neu-Inszenierung der Weltbühne den Syrienkonflikt in den nächsten Jahren beenden wird, dass dann hunderttausende Flüchtlinge zurückgehen und dabei helfen werden, ihre Region wieder aufzubauen – dieser Ausgang der „größten Krise Europas” ist alles andere als unwahrscheinlich. Auch wenn das heute kein Mensch für möglich hält.
Die Ankunft der Flüchtlinge, der rechte Aufstand und der Terror.
Zwei Millionen Jahre haben unsere Vorfahren erlebt, dass die Ankunft großer Gruppen von Fremden nichts Gutes verheisst. Meistens war Kampf, Brand, Raub und Vergewaltigung die Folge. Die hysterischen Reaktion auf die Vorfälle in Köln zur Silvesternacht 2016 zeigt, wie tief diese atavistischen Reflexe sitzen: Aus einer Hooligan-Nummer wurde „über Nacht” ein generalisierter Kulturkrieg.
In der modernen Zivilisation, die aus Migration ENTSTANDEN ist (vom Land in die Städte, von der Subsistenz zur Industriewelt, in der jahrtausendelangen Diffusion der Ethnien innerhalb Europas), existiert neben der Angst vor dem Fremden aber auch immer eine Gegen-Erzählung. Die humane Zivilisation kennt schon lange Begrüßungskulturen. Dass Fremde uns kulinarisch, kommunikativ und kulturell BEREICHERN, ist eine inzwischen kollektiv erlernte Erfahrung – ausser dort, wo man diese segensreichen Effekte nicht wirklich erfahren durfte.
Man stelle sich vor, man führt sich ungeliebt. Übervorteilt. Man hat das Gefühl, ALLE ANDEREN sind gesellschaftlich weitergekommen. Nur man selbst stagniert – in der Liebe, in der Ökonomie, im Lebensgefühl, im Schulenglisch, in seiner Weltmächtigkeit. Und nun kommen Fremde, und werden auch noch FREUNDLICH BEGRÜSST – wo man sich selbst als fundamental ungeliebt empfindet!
In einem Interview in der ZEIT formulierte der Psychoanalytiker Matthias Wellershof:
„Angst hat generell etwas damit zu tun, ob man die Erfahrung in seinem Leben macht, handlungsfähig zu bleiben. Wer alle Kontrolle verliert, hat Angst… Die Flüchtlingskrise erwischt viele von uns auf dem falschen Fuß. Die Geflüchteten konfrontieren uns nicht nur mit unseren privilegierten Lebenssituationen, sondern auch mit unserer eigenen Unfähigkeit, selbst aufzubrechen. Diese Menschen fügen sich nicht in ihr Schicksal, sie nehmen es in die Hand. Sie brechen auf. Für uns ist das eine Provokation. Denn wir, in unseren zugestellten Alltagen, zaudern und zögern. Müssten könnten, sollten wir nicht auch aufbrechen? Wer von uns traut sich einen solchen Schritt in unserer durchgetakteten Arbeitswelt, in dieser Welt grenzenloser Effizienzsteigerungen?”
(Was machen diese Bilder mit uns? – 17. März 2016, S.41).
Das Auftauchen von Fremden erzeugt bei labilen Personen eine Traumatisierungs-Krise, die mit einem inneren Selbstwert-Verlust zusammenfällt. Man ist selbst fremd im Land, und durch die Abwehr des anderen Fremden stabilisiert man sein fragiles Ich. Das ist das, was wir im Aufkommen von Pegida und AFD-Kultur erleben: Aggressionsspiralen auf Grund von mangelnder Selbstsicherheit. Unsicherheitsrevolten. Schwächeaufstände.
Auffallend ist, wie sehr dies der Logik des Terrorismus ähnelt. Auch die Djihadisten leiden ja vor allem an einem Mangel an Selbst-Wirksamkeit. Sie empfinden sich als Verachtete in einer als überwältigend empfundenen Kultur der (westlichen) Permissivität. Ihr trotziger Paradies-Apokalyptizismus ähnelt dem Paradies der Biodeutschen, in das uns die Neo-Nationalen zurückholen wollen.
Wir alle müssen mit den diversen Ängsten umgehen. Angst vor der Liebe, vor Bedeutungsverlust, Versagen, Krankheit, Tod. Vor diesen diffusen Lebensängsten lässt es sich trefflich flüchten, wenn wir sie auf eine externe Bedrohung projizieren. Deshalb betreiben viele Kulturen„Othering” (Edmund Said) – Die eigene Identität wird durch das Fremde erst befestigt und definiert. In diesem Prozess sind Verschwörungstheorien Teil der Selbst-Stabilisierung. Die Folge sind Halluzinationen von Überwältigung, die in Macht- und Gewaltphantasien kompensiert werden. Aus dem fragilen Ich entsteht ein heroisches Wir. Wir gegen den Rest der Welt! Das Gerechte gegen die Ungläubigen! Solche Muster der Gewalt haben ihren Ursprung weniger in politischen Konzepten,
sondern in den Verletzbarkeiten der menschlichen Seele. Es tut gut, sich einzugestehen, dass dies zur conditio humana dazugehört.
Aber es wird nicht gewinnen.
China. China? China!
Vor zehn Jahren wanderte der Pionier der Trend- und Zukunftsforschung, John Naisbitt, nach China aus. Mit seiner Frau Doris übernahm er im Alter von 75 Jahren ein Trend- Institut in Tianjin, in dem er sich ausschliesslich mit der Zukunft Chinas beschäftigt.
John Nasbitt schrieb in den 80er Jahren die charismatischen Weltbestseller der frühen, Trendforschung: „Megatrends” und „Megatrends 2000”. In seinem jüngsten Buch, „Chinas Megatrends” versucht er, dem chinesischen Wandel eine konfuzianische Narration zu geben. In acht Kapiteln mit folgenden Titeln:
- Die Emanzipation des Denkens.
- Der Balanceakt zwischen Spitze und Basis.
- Dem Wald Grenzen setzen, doch die Bäume wachsen lassen.
- Von Stein zu Stein ertasten wir unseren Weg durch den Fluss.
- Künstlerische und Intellektuelle Inspiration.
- Ein Teil der Weltgemeinschaft.
- Fairness und Freiheit.
- Von olympischem Gold zu Nobelpreisen.
Wurde in der Debatte über die „China-Krise” jemals jemand mit solch poetischen Worten argumentiert? Woher stammt unser China-Bild? Natürlich: Aus der Vergangenheit. Und so schnell lassen wir es uns nicht kaputtmachen. China, das ist Parteidiktatur, Staatsbürokratie, Smog, Marschieren, Massen-Armut in Milliardenzahl. Dass die Geburtenrate Chinas unter der Deutschen liegt, dass China die pünktlicheren High-Speed-Züge hat, dass das Land eine dreimal größere obere Mittelschicht hat als Deutschland – Menschen, die SUVS fahren, englischsprachige Zeitungen lesen und Nannys für das Funktionieren ihrer Doppelverdienerhaushalte nutzen – das lässt sich nur schwer vorstellen. „China alt” hat wunderbar in unser altes Globalisierungs-Koordinatensystem gepasst. Jetzt kaufen chinesische Firmen deutsche Mittelständler – und gehen klüger mit ihren Akquisitionen um als amerikanische Konzerne, die deutsche Firmen aufkaufen. Was liegt näher, als diesen Wandel durch Krisenangst abzuwehren? „China gefährdet die Weltkonjunktur” – „Angst vor dem Absturz der Wirtschafts durch China-Krise!”- so lauten die Dauerschlagzeilen.
”Keine Volkswirtschaft hat es geschafft, drei Jahrzehnte lang zu wachsen und sich dann fundamental zu ändern, ohne dabei ins Straucheln zu geraten“, sagte neulich der Wirtschaftsprofessor Richard Sylla in einem Interview mit CNN. Als China noch mit 10 Prozent „gesund” wuchs, verbrauchte das Land so viel Beton im Jahr wie die USA in einem halben Jahrhundert! Die simple Wahrheit ist: Chinas Wirtschaft entwächst gerade – mühsam und unter Schmerzen – jener Beton-Brutalität, die auch unsere industrielle Wirtschaft in den 60er Jahren fest im Griff hatte.
In Nicole Brandes Buch „Wir-Intelligenz” wird diese Transformation in eine Dienstleistungs- und Wissengesellschaft so geschildert:
„In der Werkhalle 18 von Sany im zentralchinesischen Changsha, Chinas größtem Maschinenbauer, ist die Fabrik der Zukunft bereits Wirklichkeit. Sany stellt hier Asphaltiermaschinen und Betonmischer her. Der Betrieb hat durch und durch auf Elektronik umgestellt: Die Maschinen sind untereinander vernetzt und sammeln ununterbrochen Daten über den Produktionsprozess. Mit den gewonnenen Informationen optimiert Sany die Produktion. Damit rückt das Unternehmen dem Ziel der sich selbst organisierenden und kontinuierlich optimierenden‚ ‚Intelligenten Fabrik‘ ein großes Stück näher.
China zählt:
- 668 Millionen Internetnutzer, mit einem Wachstum von 6% pro Jahr.
- 1,3 Milliarden Abonnenten von Mobilephones.
- 659 Millionen Nutzer von sozialen Medien – mehr als USA und Europa zusammen.
Ist es eigentlich so undenkbar, dass China uns genau an jenen Punkten Konkurrenz machen wird, wo es um High Tech, Industrie 4.0, Genetik und Robotik – also die zentralen ZUKUNFTSBRANCHEN – gehen wird?
Und hat nicht neulich jemand behauptet, Konkurrenz belebe das Geschäft?
Die globale Umweltkrise
Seltsam auch, wie hinter all diesen imaginären oder überzeichneten Katastrophen das planetare Armageddon verblasst ist, in dessen Perspektive ganze Generationen in Deutschland aufgewachsen sind: Das Ende der Natur. Die Zerstörung des Planeten. Die Vergiftung der Biosphäre. Das Ende des Öls. Die große Flut durch Global Warming!
Nur ein paar Jahre ist es her, dass wir ALLE an eine Zukunft glaubten, in der Ressourcen-KNAPPHEIT den Zivilisationsprozess zum Erliegen bringt. Das Narrativ war einfach: Jeder von uns Erdenbürgern in der wohlhabenden Welt „verbraucht” mehr, als ihm „zusteht”. Irgendwann sind die Ressourcen verbraucht – und dann ist es aus mit dem Wohlstand! Das grün-ökologische Denken definiert die Natur als eine Art geizige Übermutter, die mit schrecklicher Strafe reagiert.
Wie fundamental religiös diese Vorstellung war, dämmert uns nur allmählich. Die Erzählung vom „Sünder Mensch”, die seit der Veröffentlichung der „Grenzen des Wachstums”
durch den Club of Rome unser humanes Selbstbild prägt, ist ein zäher Mythos. Jetzt, wo das Öl immer billiger wird, ahnen wir, dass etwas and der Rechnung nicht stimmt. Wir sind einem linearen, verengten Weltbild aufgesessen. Alle ökologischen Doomsday-Panoramen machen die Rechnung ohne den Wandel auf – ohne jene ständigen technologischen, sozialen, kulturellen Verfeinerungs- und Rückkoppelungs-Prozesse, in denen der Mensch mit seiner Umwelt lernend interagiert.
Es ist höchste Zeit, sich aus der Knappheits-Ideologie zu verabschieden. Auch die Steinzeit ist nicht am Mangel an Steinen zu Ende gegangen! Dabei geht es nicht um die „Widerlegung” des Ökologischen, sondern um seine Weiterentwicklung: Die solaren und biologischen Energien, die uns zur Verfügung stehen, sind tendenziell unendlich – allein die Sonneneinstrahlung könnte die heutige Zivilisation zig-tausendfach mit günstiger Energie versorgen. CO2-Produktion ist in diesem Rahmen einfach nur anachronistisch, wir müssen auf nichts „verzichten”. Die stofflichen Ressourcen sind, wenn wir sie als molekulare Transformationen begreifen, tendenziell unendlich. Michael Braungart, der Erfinder der „Cradle-to-Cradle” Bewegung,
plädiert deshalb statt für grüne Askese für eine „Intelligente Verschwendung”. Er spricht einer Ökologie der Fülle das Wort. Der grüne Urban-Architekt Bjärke Ingels spricht von der „Hedonistischen Nachhaltigkeit” als das neue Zukunkunfts-Paradigma. Eine Ökologie, in der nicht die Angst, sondern die Lust am organischen Leben die zentrale Rolle spielt:
Wäre das nicht eine taugliche Vision für das 21.Jahrhundert?
Die Circular Economy
Die Beratungsfirma McKinsey hat in einer großen Studie die Elemente einer biomorphen Zukunft-Wirtschaft analysiert
(Martin Stuchtey: Circular Economy: Werte schöpfen, Kreisläufe schliessen). Sechs „Metabranchen” spielen dabei die Schlüsselrollen:
- RE-GENERATE:
Umsteigen auf erneuerbare Energien, Wiederherstellung natürlicher Schutzräume, Ent-Giftung der Umwelt. - SHARE:
Gemeinsame Nutzung von Autos, öffentlichen Räumen, Wiederverwendung von langfristigen Gütern. - OPTIMIZE:
Eliminierung von Verschwendung, Nutzung von Big Data, Automatisierung und Fernwartung. - LOOP:
Wiederaufbereitung und „Upcycling”. - VIRTUALIZE:
Die Immaterialisierung von Produkten und Erlebnissen, bis hin zum autonom fahrenden Auto. - EXCHANGE:
Umstieg auf neue Technologie-Generationen, wie der von der Glühbirne auf LED, oder der Einsatz von 3-D-Druckern,
Elektroautos statt Verbrennungs-Fossile, oder die Wasserstoff-Technologie.
„Der Kreis ist heiss”, titelte der SPIEGEL – und brachte über dieses Konzept der zirkulären Ökonomie eine der wenigen POSITIVEN Berichte der letzten Jahre. Heute wissen wir , dass der HUMAN PEAK gegen 2060 stattfinden wird, wahrscheinlich wird die menschliche Population knapp unter 10 Milliarden Menschen ihren Zenit erreichen. Danach wird die Anzahl der sapiens sapiens auf dem Dritten Planeten des Sonnensystems wieder schrumpfen. Nein, wir sind keine schuldigen Ameisen, keine Schmarotzer und Parasiten an „Mutter Natur”. Wir sind intelligente Terraformer – eine lernende, sich-wandelnde Spezies auf einem ziemlich resilienten Planeten. Das könnte für den Untergangs-Apostel unserer Tage eine grössere Ent-Täuschung sein?
Was also ist eine „Krise”? Nein, nicht einfach nur „eine Chance” – das ist billiges Business-Bullshit-Bingo. Eine Krise ist eine kognitive Dissonanz. Sie entsteht, wenn die Welt-Modelle, die wir im Kopf haben, nicht mehr mit erfahrenen Wirklichkeiten übereinstimmen. Krise ist immer eine ENTTÄUSCHUNGS-Erfahrung: Die Welt soll friedlich sein. Europa muss sich in den Armen liegen und einig sein. Es soll keine fremden Gesichter auf den Straßen geben. Menschen sind Sünder. Das Geld soll sich durch Zinsen automatisch vermehren. Undsoweiter.
In der Krise können wir uns von Angst lähmen und blenden lassen. Oder wir versuchen ver-zweifelt, die Welt wieder so zu re-konstruieren, wie wir sie gewohnt sind (oder wie sie angeblich „früher heil war”). Die dritte Möglichkeit besteht darin, reale Ent-Täuschungs-Arbeit zu leisten. Das heisst: sich würdevoll von den Täuschungen zu verabschieden.
Hier ist eine steile These: In Wirklichkeit wird die Welt in den turbulenten Prozessen, die wir derzeit erleben, robuster, vielfältiger und resilienter.
In Krisen verdeutlicht sich ein evolutionäres Prinzip. Auf der Website EDGE.com hiess es neulich in einer Antwort auf die Frage ”Was ist die tiefste und eleganteste Erklärung für den Wandel der Welt?”:
Die natürliche Auslese ist das einzige bekannte Gegengewicht gegen die Tendenz physischer Systeme, funktionelle Organisationsgrade zu verlieren – der einzige Prozess, der die Organismen (manchmal) auf eine höhere Ordnungsebene bringt… Entropie führt immer wieder Kopierfehler in die Reproduktion ein, aber dieser Effekt korrigiert sich selbst. Natürlicherweise sind die Weniger-organisierten schlechter darin, sich selbst fortzupflanzen, und somit werden sie aus der Population entfernt… Im Gegensatz dazu verbreiten sich Kopierfehler, die höhere Ordnungsfunktionen erzeugen, weiter… Organismen nutzen den Trick, sich durch verschiedene entropische „Rahmen„ zu entfalten…
Dieses komplizierte Zitat lässt sich auf eine Formel reduzieren: Aus chaotischen Prozessen entstehen neue, komplexe Balancen. Das Emergenz-Prinzip: Die Bildung spontaner neuer Ordnungen – zeigt sich gerade in den Krisen. Dabei kommt es aber entscheidend auf den mindset an, mit dem wir die Welt betrachten. „Kreative Problemlösung”, so schreibt es der BEwusstseinsforscher David Gelernter in seinem Buch „Gezeiten des Geistes”, „geht häufig mit der Erfindung einer neuen Analogie einher. Manchmal spricht man auch davon, das Problem wurde restrukturiert.” (Gezeiten des Geistes, S 226.)
Wenn wir zum Beispiel akzeptieren, dass Globalisierung keine Einbahnstraße (mehr) ist, in der wir Umweltkosten externalisieren und endlos billige Produkte kaufen können, sondern auch bedeutet, dass MENSCHEN zu uns kommen, wenn sie in Not sind, synchronisieren wir unseren MINDSET mit der Wirklichkeit. Dann ist die Flüchtlingskrise keine Krise, sondern humanitäre Migration. Ein Einwanderungsgesetz wäre die logische Konsequenz; eine neue Realität des Kommens und Gehens, des Transfers in BEIDE Richtungen, die wir gestalten und zum Gelingen bringen müssen.
Wenn wir verstehen, dass der Prozess der ewigen Geldvermehrung irgendwann an sein Ende kommen MUSS, weil die Mechanismen, die die Geldmaschine antrieben, irgendwann erschöpft sein müssen, können wir einen anderen, qualitativen Wohlstandsbegriff entwickeln, anstatt immer nur über die „Krise des Finanzsystems” zu jammern.
Wenn wir verstehen, dass Terrorismus niemals gewinnen kann, weil nach den psychologischen Gesetzen die Anzahl der Selbstmord-Bomber extrem begrenzt blieben muss (Menschen sind, after all Überlebens-Wesen), dann entziehen wir den Mördern ihren Schreckens-Bonus.
Wenn wir begreifen, dass der Mensch nicht als ewiger Sünder auf dem Planeten lebt – dann öffnet sich die Tür zu einer einer ganz anderen Perspektive auf die Zukunft der Menschheit.
„Its a crime to waste a crisis”, formulierte die Futuristin Hazel Henderson. Krisen sind nicht zu Ende, wenn sie „vorbei” sind. Sondern wenn eine neue Wahr-Nehmung entsteht. Wenn es in der Liebe keine Krisen gäbe, würden wir uns irgendwann nur noch anöden, und warten, bis dass der Tod uns endlich scheidet. In Krisen zeigt sich das vitale Moment der Welt, das unaufhörliche Drängen nach Zukunft, das erst in der Turbulenz seine sichtbare Form erhält.
Dieser Text erschien in einer redigierten Fassung
in der Zeitung DIE WELT am 17.04.2016.