Einer der Gründe, warum die Zukunft so schwer zu erkennen ist, liegt in der hartnäckigen Behauptung, dass früher alles besser war. Verhielten sich nicht „die Menschen“ früher solidarischer? Waren „wir“ nicht moralisch aufrichtiger, weniger gierig?
In jeder Talkshow, jedem politischen Kommentar, wird ein nostalgisches Lied gesungen: Früher waren die sozialen Verhältnisse gerechter. Arbeitsplätze waren lebenslang sicher. Die Ehen haltbarer, die Jugend weniger gewalttätig, die Währungen so hart wie, nun ja, Kruppstahl.
Irgendwie, hört man es jetzt wieder, ging es uns mit der guten alten D-Mark viel besser. Und, so sagen es selbst die klugen, intellektuellen Freunde, ist Europa nicht eine bürokratische Fehlgeburt? Gegen „die Chinesen“ kommen wir mit diesem ewig streitenden Hühnerhaufen sowieso nicht an. War der Nationalstaat nicht klarer und besser?
Also wird in allen Wirtschafts-Zeitungen der Euro schon mal post mortem geschreddert. In den Talkshows fordern strenge Herren das „Ende des Abzockens des deutschen Steuerzahlers“. Die Dänen machen wieder Grenzkontrollen? Verstehen wir irgendwie …
Das menschliche Hirn hat leider eine Fehlfunktion. Damit wir unsere Homöostase – unser menschliches Gleichgewicht – stabil halten können, produzieren wir Vergangenheits-Mythen, die uns Stolz und Selbstwert geben – in Form von selektiven Erinnerungen. Wir vergleichen nicht die Wirklichkeit von gestern mit der Wirklichkeit von heute. Sondern idealisierte Kopfkino-Clips mit einer stets als widersprüchlich empfundenen Gegenwart.
Wann wären Sie gerne zu Zahnarzt gegangen? Der heutige, durch moderne Betäubung gegen Null tendierende Schmerz, ist immer schlimmer als der vergangene. Dass uns vor dreißig Jahren ohne Betäubung und mit ruppigen Worten („Stell Dich nicht so an!“) in den Nerv gebohrt wurde, haben wir gnädig vergessen. Die Umwelt war eher schmutziger als blau. Ehen waren „damals“ in der Tat haltbarer. Auch deshalb, weil den Männern schon mal „die Hand ausrutschte“. Jugendliche betranken sich früher genauso – oder mehr – als heute. Allerdings gingen sie dann zum Kotzen nach Hause statt in die Klinik. Deshalb avancierte „Komasaufen“ zum Talkhow-Dauerbrenner-Problem-Trend.
„Damals“ standen wir stundenlang an jeder Grenze. Grenzbeamte durften ohne sichtbare Gründe unsere Autos auseinandernehmen. In jedem Land brauchte man eine eigene, unverständliche Währung. Italiener waren einfach „Itaker“ und, nach väterlichem Verdikt, sozial zu meiden. Griechen waren eine Abteilung der „Jugos“; Portugiesen und Spanier galten als unheimliche, aber temperamentvolle Drittweltbewohner.
Es ist unheimlich schwer zu verstehen, dass die Welt sich zum Besseren verändert hat. Denn das widerlegt unsere Vorurteile, unsere Ressentiments. Doch wer es anerkennt und und annimmt, wird mit einer kostbaren Wahrheit konfrontiert: Wir sind verantwortlich für unsere Zukunft. Jammern hilft nicht. Um die Welt zu verbessern, müssen wir Anstrengungen in Kauf nehmen. Europa ist anstrengend. Europa ist divers. Manchmal gibt es, wie in jeder großen Familie, Problemfälle, Streit und Turbulenz. Das muss man aushalten. Nur so, und nicht in der Verklärung der Vergangenheit, entsteht Zukunft.