Das Angst-Gen

Warum haben Deutsche so viel Angst? Vor Ausländern, Leistungsstress, Gurken, Burnout, Mobbing, vor Überfremdung, Aussterben, Waldsterben, Hartz vier und fünf und sechs? Vor Feindstaub und Industrie-Food und Bio-Food (neuerdings), vor Strahlung, Bahnhöfen, Stromtrassen, vor Komasaufen und Inflation und Deflation und dem „Griechen-Horror” (BILD).

Warum glauben 80 Prozent der Deutschen, dass die Zukunft in jedem Fall schlechter sein wird als die Gegenwart und „alles immer schlimmer wird”, vor allem die Jugend? Und vor allem: warum reden sie so unglaublich gerne darüber?

Eine mögliche Antwort ist: weil Deutsche klüger und sensibler sind. Anders als arrogante Franzosen, dumpfe Engländer und naive Amis verstehen sie, dass die Welt TIEFE hat, ein einziger Gefahrenort ist, das Leben brüchig, fragil, von Wagner-Akkorden durchklungen.

Diese Sensibilitäts-These ist so alt wie die Deutsche Romantik. Sie geht zurück auf die deutschen Übersensibilisten, die die deutsche Geschichte immer schon geprägt haben, man nehme Rilke, Heine, Hesse, König Ludwig, Helmut Kohl und Margot Käßmann.

Eine andere Antwort hat der Molekularbiologe Peter Gruss neulich in einer Rede, bei der Angela Merkel aufmerksam zuhörte, präsentiert. Die neue neurogenetische Forschung hat nachgewiesen, dass bestimmte „Gefühlsbereitschaften” tatsächlich vererbbar sind. Schlüssel zu dieser Tatsache ist die Epigenetik. Ein Forschungszweig, welcher die Art und Weise analysiert, wie die Expression von Genen in Zellen stattfindet.

In ihrer Kindheit durch Gewalt oder Missbrauch traumatisierte Kinder, so sagen uns die Epigenetik-Forscher, können ihre Angstbereitschaft tatsächlich auf genetischem Wege an ihre Nachkommen weitergeben. Diese weisen dann eine besonders stark „ausgebaute” Amygdala (das Angstzentrum im Hirn) aus. Millionen von Deutschen, die in den Weltkriegen Erfahrungen von Flucht, Zusammenbruch, Vermögensverlust und Krieg erleiden mussten, haben die erlittenen Ängste auf ihre Kinder übertragen – und nun binden sich diese Ängste an aktuelle Phänomene. Griechenland ist Weimar.

Aber vielleicht braucht es noch nicht einmal die Gene. Die Memetik – auch dies eine neue Wissenschaft – erklärt uns das Hirn selbst als einen Operationsraum von kulturellen Musterbildungen. Wie EHEC-Infektionen pflanzen sich bestimmte Überzeugungen und Weltbilder im kollektiven Bewusstsein fort – und führen dort ein Eigenleben. Die allgegenwärtigen Medien beschleunigen diesen Prozess, und auf diese Weise entsteht ein Super-Mem aus Befürchtungslagen.

Die simpelste Antwort hat jedoch noch niemand formuliert. Vielleicht, weil sie so profan ist. Man nennt dies den „Negativitätsvorteil”: Wer Angst hat, genießt schlichtweg Privilegien. Er kann nie unrecht haben, denn wenn es nicht so schlecht kommt, wie er befürchtete, lag es daran, dass er so gut gewarnt hat. Angst adelt. Angst autorisiert. Wer Angst hat, hat für nichts Verantwortung…

Entweder die Anthropologen können uns das als ein altes Schamanen-Phänomen erklären, wonach die „Schwarzseher” immer schon die beste Hütte und das beste Fleisch bekamen. Oder in unserer Gesellschaft wird schlichtweg kindliche Regression belohnt. Mit Sendezeit, Aufmerksamkeit und dem wohligen Gefühl der Schicksalsgemeinschaft.

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