Erregungsrituale

Sind unsere Medien zu kritisch? Gehen sie gemein mit eigentlich unschuldigen Politikern um? Recherchieren sie zu hart? In einer Talkshow wurde neulich sarkastisch angemerkt, dass nun nur noch Jesus Bundespräsident werden könnte. Und der müsste sich beim Übers-Wasser-Laufen vorwerfen lassen, er sei von einer Outdoor-Klamottenmarke gesponsert worden!

Nein, das Problem ist nicht das Kritischsein. An der Causa Wulff zeigt sich vielmehr eine gespenstische Gleichschaltung von Meinungen, ein opportunistisches Dagegensein quer durch alle Lager. Wir erinnern uns an journalistische Glanzlichter wie den Watergate-Skandal, die Flick-Affäre, Kohls Spendenaffäre. Damals wurde heiß debattiert, die Debatte wogte hin und her, es gab Lager und Unterschiede. Es ging noch um etwas. Um Widerspruch. Demokratie. Zukunft. Heute hat man das Gefühl, dass es nur noch um die immergleichen Erregungsrituale geht. Die Empörungsmaschinerie kreist um sich selbst, und findet immer neue Opfer zum Zermahlen.

Zum Teil hat dies einfach handfest ökonomische Gründe. Weil immer mehr Medien in gnadenloser Konkurrenz um die rare Ressource Aufmerksamkeit konkurrieren, müssen die Redaktionen sparen. Gefälligkeitstexte im Anzeigenumfeld sind längst an der Tagesordnung. Kein Journalist, der nicht seinen Journalistenrabatt beim Autokauf einfordert. Viele Medien sind heute strukturkorrupt; schon allein deshalb hebt man gerne den Zeigefinger gegen moralische Verfehlungen anderer.

Dabei ist die mediale Bigotterie schlichtweg unerträglich: Mitten im Wulff-Bashing berichtet JEDES deutsche Blatt – auch der ach so politisch korrekte SPIEGEL! – jeden Tag ausführlich über das Dschungelcamp. Diese Sendung ist ein Abgrund an Zynismus, ein wahrhafter Sumpf an Menschenverachtung. Sie führt Menschen in den niedrigsten Posen vor, entkleidet sie für rein voyeuristische Zwecke, spielt mit den ekelhaftesten Motiven der Zuschauer. Dass eine solche Sendung heute zum coolen Interieur unserer Medienkultur gehört, ist ein schreiender Skandal, der wiederum selbst von den Medien süffisant erzeugt und ausgebeutet wurde. Der Spiegel ist das neue Gesicht des Boulevards: Kritisch blinken, immer an die Auflage denken.

„Blödmaschinen – die Fabrikation der Stupidität” heißt ein Buch von Markus Metz und Georg Seeßlen. Zitat: „Aus dem im Medium ‚wiederholten‘ oder simulierten Spektakel ist längst der Schatten des Spektakels, sein obszönes Gesicht geworden. Die meisten skandalösen Sendungen … sind für sich nicht halb so unterhaltsam wie die Aufregung, die sie verursachen.” Anders gesagt: Die Medienwelt funktioniert wie ein Ansteckungssystem, das immer monströsere mentale Epidemien produziert. Wir ahnen, dass sich die Infektionen irgendwann nicht nur an Spesenzetteln oder Freunderlkreisen entzünden. Dass sie in Zukunft die Gesellschaft in eine gefährliche Hysterisierung treiben können.

Die Systemtheorie lehrt uns, dass alle Systeme, die in völlige Synchronisation verfallen, auf eine Katharsis zusteuern. In den 90ern boomte die Werber- und Marketingbranche, bis alle nur noch Marketing-Speech redeten und die Etats gestrichen wurden. In den Nullerjahren rannten Banker und Broker nur in eine Richtung, bis zum Crash. Raten wir, welcher Wirtschaftssektor und Berufsstand demnächst in eine existenzielle Krise gerät.

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