Kaum sind wir aus den leicht Maya-Untergangs-getönten, verdächtig katastrophenlosen Weihnachtstagen aufgetaucht, schwappt die nächste Angstwelle über uns hinweg. Das Wachstum schrumpft! Warum die Panik?
„Am Abgrund der Rezession” titelt eine Illustrierte. „Wachstum schwächelt – Wirtschaft droht zu schrumpfen – 2012 ein desaströses Jahr?” Überall in den Wirtschaftsteilen, und nicht nur da, schlittert, bröckelt, bröselt, droht, erodiert, stolpert, schrumpft die Konjunktur auf den Abgrund zu. Schon die Wortwahl zeigt etwas zutiefst Neurotisches.
Warum fürchten wir uns so vor dem Bruttosozialprodukt (BSP)? Hat die Schrumpfangst etwas Sexuelles? Gibt es eine Ewigkeitsgarantie auf dreieinhalb Prozent MEHR pro Jahr? Wie der Junkie auf den Stoff warten wir auf die nächsten Konjunkturzahlen, die von teuren Experten zuverlässig fehl-vorausgesagt werden. Wir verstehen nicht, dass unser Problem längst nicht mehr im MEHR liegt. Selbst Armut ist in unserer Kultur kein Wachstumsproblem mehr, sondern eher ein Mangel an Bildung, Zugang, Sozial- und Kommunikationskompetenz. Deutsches (Industrie-)Wachstum ist in Europa sogar ein Teil der Krise, weil es andere Euro-Länder ins Defizit treibt.
Wer Kinder hat, weiß dass die manchmal gar nicht wachsen (dann machen wir uns Sorgen). Und manchmal schießen sie in die Höhe. Nach der Pubertät sind wir froh, dass dieser Prozess abgeschlossen ist, sonst gäbe es nur noch Basketballungetüme. Es gibt gesundes und ungesundes (Anabolika-)Wachstum. Nach jeder Wachstumsphase muss sich das System (bei den Kindern das Gehirn) neu zusammensetzen. In der Wirtschaft müssen sich in zyklischen Abständen neue Branchen, Ideen, Innovationen durchsetzen. Das geht nur, wenn nicht alle automatisch auf besseren Absatz spekulieren können. Boomzeiten machen innovationsfaul.
Ein Mangel an Wachstum, so heißt es bei den Standard-Ökonomen, führt zu Verteilungskämpfen, sozialem Unfrieden, Niedergang. Ist das zwangsläufig? Nach dem Krieg schrumpfte Englands Wirtschaft, während Deutschland-West boomte. Die Engländer verwandelten sich nicht in Barbaren, sondern verfeinerten ihre Teegarten- und Debattenkultur. Schweden hatte 1990 bis 1992 eine Wirtschaftskrise von griechischen Ausmaßen. Das BSP sank um 10 Prozent, die Zinsen stiegen auf 18 Prozent. Wie Finnland 1993 erfand sich das Land neu, renovierte sein Sozialsystem und ging entschlossen Richtung Wissensökonomie. Island, das drastischste Opfer der Finanzkrise, baute mitten im Absturz ein riesiges Bürger-Musikhaus, das „Harpa” – die Baukosten wurden (anders als im reichen Hamburg) eingehalten. Zukunft entsteht nicht dann, wenn die Wirtschaft brummt. Sondern wenn die Gesellschaft neue Formen der Kooperation entwickelt.
Ich bin weit davon entfernt, Wachstum zu verteufeln. Es kann sich vom Rohstoffverbrauch abkoppeln, kann geistig, intelligent, human werden. Aber ohne einen neuen, komplexeren und kreativeren Wachstumsbegriff verstehen wir nur Zukunfts-Bahnhof. Wie eine Partei, die nun die Formel Wachstum an die oberste Stelle ihres Programms gesetzt hat. Die FDP hatte einst differenziert denkende Leute, die uns verantwortungsvoll durch den Kalten Krieg führten. Nun sitzen da tragische Clowns, die nur noch das nachbeten, was ihnen die Ökonomen des vergangenen Jahrhunderts eingetrichtert haben. Es ist ein Abgrund.