Das Krisen-Gefühl

Wir interessieren uns kaum für das, was sich stetig verbessert. Mit dem „Ich hab’s ja immer schon gewusst”-Gefühl schützen wir uns vor den Enttäuschungen des Lebens.

Vor fast genau zwei Jahren wettete ich mit dem Börsenguru Dirk Müller, auch „Mister DAX” genannt, in einer österreichischen Talkshow spontan auf die ökonomische Zukunft. In der Show ging es – wie so oft – um den unvermeidlichen Zerfall Europas und das damals allerorts verkündete Ende des Wohlstands. Müller behauptete, spätestens in zwei Jahren würden wir ins in einer weltweiten Wirtschaftskrise befinden. Ich wettete 1.000 Euro dagegen.

Ich ahne schon: Müller wird seine Wettschulden nicht bezahlen. Er wird das Ausbleiben der Katastrophe als Vorzeichen eines noch viel größeren Desasters deuten. Aber die erfolgreichsten Fondsmanager sitzen in diesem Jahr in Athen. Die Vermögensverwaltung NBG Asset Management traute sich, vor zwei Jahren griechische Staatsanleihen zu kaufen.

Der Dax liegt bei 9.000 Punkten, die Wirtschaft brummt. China hat trotz allen Unkenrufen immer noch 7,5 Prozent Wachstum (klar, das wird nicht so weitergehen), in vielen Ländern hat sich der Anteil der Armen weiter verringert. In den südlichen Euro-Ländern ist nicht alles prima, aber vieles auf einem besseren Weg. Können wir das irgendwie wahrnehmen, würdigen, anerkennen? Nein. Auf seltsame Weise ist das Bessere auch schon wieder schlecht.

Der amerikanische Publizist Stephen Johnson schrieb in seinem Buch „Future Perfect”: „Wir haben einen inneren blinden Punkt für graduellen Fortschritt (…). In Wirklichkeit interessieren wir uns kaum für das, was sich stetig und kontinuierlich verbessert. Negative Botschaften, Auguren des Untergangs und mediale Niedergangs-Rhetoriker erregen unsere Aufmerksamkeit leichter als Meinungsbildner, die auf Fortschritts-Möglichkeiten hinweisen. (…) Ich glaube, dass auf längere Sicht diese mediale Verzerrung gegen den Fortschritt viel zerstörerischer ist als linke oder rechte Ideologie-Verblendungen.”

In der Kognitionspsychologie nennt sich dieses Phänomen „Negativitäts-Verzerrung” oder auch „Cognitive Ease”. Wir sind nicht erleichtert, wenn sich etwas verbessert, oder etwas Negatives nicht eintritt. Es geht uns eher prima, wenn wir uns in unseren Ressentiments bestätigt fühlen. Eine Art Krisen-Kokon. Mit dem „Ich hab’s ja immer schon gewusst”-Gefühl schützen wir uns vor den tatsächlichen Enttäuschungen des Lebens. Und dürfen uns überlegen fühlen.

„Krise” ist auf diese Weise längst zum dauerhaft lukrativen Geschäftsmodell geworden. Aber auch zu einer Art Lifestyle, einem „modus vivendi”, in dem wir es uns gemütlich-gruselig eingerichtet haben. Die schlichte Wahrheit, dass Krisen notwendige Veränderungsreize sind, die zur Zukunft (zur Wirtschaft, zur Liebe) dazugehören wird uns als realistische Weise der Weltbetrachtung immer ferner.

Fortschritt ist immer auch das Ergebnis gelungenen Umgangs mit Störungen, und nicht jede Störung ist ein Untergang. Aber in der ewigen Gebetsmühle der Krisenrhetorik legen wir den Standard für Normalität immer höher. Und hören auf, Fragen zu stellen: Was ist uns Europa wert? Wo müssen wir uns aus alten Komfortzonen herausbewegen? Hier liegt die eigentliche Gefahr. Wie die Geschichte zeigt, beginnt die wahre Krise dann, wenn alle nur noch „Rette sich wer kann!” schreien. Und sich als Kleine Männer von der Weltgeschichte betrogen fühlen.

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