Warum wir dringend ein neues Wachstums-Modell brauchen
„Sie sind doch Zukunftsforscher. Ich würde gerne von Ihnen wissen, wann der Krisen-Zirkus vorbei ist und die Wirtschaft wieder wächst”. So redete kürzlich ein einflussreicher Manager an einem jener üppigen Dinner-Tische, die der Job des Zukunftsredners mit sich bringt. Ich kaute ein wenig an meiner Essenz vom Perlhuhn, und dachte:
Krisen gehen nie „vorbei”. Sie sind Lernprozesse, an denen wir wachsen. Sie lassen sich in Wandel transformieren, und dann waren sie kostbare Erfahrungen…
Laut sagte ich:
„Wollen Sie wirklich, das alles so wird wie vorher?”
Er grinste. „Wir hatten doch gute Wachstumsraten in den Jahren davor. Von mir aus kann es so weitergehen! Also – wann geht es wieder los?”
Nun gehöre ich, wie man weiss, nicht zu jenen, die glauben, das sich in der Krise „das Ende des Wohlstands” ankündigt. Ebenso wenig neige ich zur erstarkten Riege der Ideologen, die „den Kapitalismus” am Ende sehen. Allerdings glaube ich AUCH, dass wir nicht mehr zum alten „Vorkrisenmodell” des Wachstums zurückkehren sollten. Und können.
Erstens sind die klassischen Wachstumsraten in unseren Breitengraden seit Jahrzehnten nachhaltig im Sinkflug begriffen. Betrug das (west)deutsche Bruttosozialprodukt-Wachstum in den 60-er Jahren noch 5 bis 6 Prozent (die Hälfte des heutigen China), sank es in den 70-ern auf 4, in den Achtzigern auf 3, in den 90ern auf 1,5 Prozent im Durchschnitt, Tendenz weiter fallend. Die Ausnahme-Rate von rund 2,5 Prozent in den letzten drei Jahren verdanken wir ausschließlich jener Turbo-Globalisierung, in der wir die Nutznießer des raschen Aufstiegs der Schwellenländer waren.
Diese historische Sonderlage geht jetzt zu Ende. China, Indien, Brasilien und Co. werden uns nicht mehr unbegrenzt als billige Werkbänke zur Steigerung des Geiz-ist-Geil-Effekts zur Verfügung stehen. Die Schwellenländer werden demnächst Maschinen, Autos, Technologien bauen, die nicht nur schlechte Kopien sind… Sie werden ihre Wachstumschancen SELBST, auf ihren Binnen- und Kontinentalmärkten realisieren.
Viele grün denkende Menschen machen es sich jetzt einfach: „Gut so! Wachstum ist sowieso umweltschädlich!” Aber auch diese Haltung halte ich für unterkomplex, ja sogar gefährlich. Schrumpfende Ökonomien bringen so sicher wie das Amen in der Kirche bösartige Verteilungskämpfe mit sich.
Wir brauchen nach wie vor ein Wachstumsmodell. Wir brauchen aber auch einen neuen ZIVILISATION-CODE.
Schauen wir zunächst auf die Kennzahl, mit der wir BIS HEUTE „Wachstum und Wohlstand” bemessen und begründen. Im BSP, jener magischen Ziffer, deren Steigen oder Fallen uns zyklisch in Euphorie oder Panik versetzt, werden zum Beispiel alle Autounfälle, Begräbnisse, Umweltverschmutzungen, Katastrophen, psychiatrische Behandlungen als Haben-Akte geführt. All das sind „Wirtschaftsleistungen”. Wenn wir unsere Alten in Heime stecken, gilt das als Steigerung des Bruttosozialproduktes – wenn sie sich zuhause wohlfühlen, nicht!
Der Fetisch des industriellen Bruttosozialprodukts hat zu einem wesentlichen Teil zur Wohlstands-Paranoia, zur neurotischem Angst vor dem Verlust der Sicherheiten beigetragen. „Fortschritt” misst sich an der Geldmenge, der Kaufmenge, dem Konsum. Und wehe, wenn die Menschen nicht mehr kaufen, die Maschinen nicht mehr laufen – dann ist das Ende nah!
Könnte man den Wohlstand – und dessen Fortschritt – nicht auch anders bemessen?
- Das Bruttoglücksprodukt (GHN – Gross Happiness Product) des kleinen Königreichs Bhutan misst einen weiten Bereich menschlicher Aktivitäten. Psychisches Wohlbefinden, Gesundheit, Bildung, Zeitverwendung und Zeitbalance, Kulturelle Gewohnheiten, Zeit zum Beten, kommunale Vitalität, Ökologie, die Einstellung zur Kommunalverwaltung. Die Statistiker des Landes ziehen mit Fragebögen mit insgesamt 290 (!) Fragen durch das Land, bis in die entlegensten Bergdörfer. Sie messen, wie oft sich Bhutans Bürger eifersüchtig fühlten, gestresst, wie ihre Einstellung zum Lügen ist, wo oft sie Sex haben, und wie viele Tiernamen sie kennen.
- Der HPI (Happy Planet Index) verbindet drei Indikatoren: den ökologischen Fußabdruck, Lebenszufriedenheit und Lebenserwartung. Er wurde im Juli 2006 von der New Economics Foundation in Zusammenarbeit mit Friends of the Earth Großbritannien publiziert, hat also einen stark ökologischen Einschlag.
- Der Subjective Wellbeing Index fragt einfach nur die Menschen, wie es ihnen geht – interessanterweise sind hier die Relationen zum Einkommen am Geringsten. Auf den ersten vier Plätzen liegen Dänemark, Puerto Rico, Kolumbien und Island.
Stellen wir uns die Zeitungsschlagzeilen der Zukunft vor:
Deutsches Glücksprodukt um 2 Prozent gestiegen!
Weisenrat 2.0 warnt vor Rückgang des Bruttoglücksproduktes!
Erste Anzeichen von kollektiver Muffigkeit weisen auf Rückgang des GHN hin!
Zunächst müssen wir definieren, was „Glück” in diesem Kontext bedeuten soll. Das deutsche Wort „Glück” hat in seinem Kern gleich zwei Bedeutungen: „Glück haben” meint sowohl den Eintritt glücklicher Fügungen (Zufälle, im Englischen chance) als auch einen Zustand von „euphorischer Zufriedenheit”. Beide Zustände sind allerdings im Deutschen melancholisch-romantisch überhöht. Es sind flüchtige Zustände, auf die wenig Verlass erscheint. Das Glück kommt und geht. Es macht was es will! Es ist sogar gefährlich, weil es uns in Illusionen wiegt!
Das englische Wort „Happiness” zielt hingegen eher auf eine dauerhafte Kompetenz, die sich AUCH (aber eben nicht nur) in einer positiven Gefühlslage ausdrücken kann. Es meint eher „seines Glückes Schmied sein können”. Im Deutschen kommt das Wort „Lebenszufriedenheit” am nähesten (was allerdings sehr passiv wirkt). Oder das komplizierte „Selbstwirksamkeit” („Selfness”).
Der Philosoph Wilhelm Schmid hat in seinem Buch „Glück – alles was Sie darüber wissen müssen” überzeugend herausgearbeitet, dass wir den Glücksbegriff neu verstehen müssen, wollen wir nicht in eine blöde Dieter-Bohlen-Ideologie abdriften (im Sinne von „Spaß haben”, was so ziemlich das Langweiligste der Welt ist): Glück ist gleich SINNERFAHRUNG. Menschen sind dann glücklich, wenn sie Ihre Umwelt und ihr Leben als KOHÄRENT erfahren. Menschen sind glücklich, wenn sie etwas BEWIRKEN können, das ihnen Anerkennung, inneres Wachstum und Ansporn bietet. Glück hat etwas mit bewältigten und bewältigbaren Herausforderungen zu tun. Und eben NICHT mit Harmonie und Problemlosigkeit!
Auch hier müssen wir vor vorschnellen Idealisierungen warnen. Es führt in die Irre, Glück völlig vom materiellen Wohlstand abzukoppeln. Seine Kurve verläuft zwar nicht exakt parallel zu materiellem Wohlstand (ab etwa 25.000 € Jahreseinkommen wird man nicht mehr automatisch glücklicher, wenn das Einkommen steigt), ist aber sehr wohl mit ihm VERBUNDEN. Zwar gibt es „glückliche Länder” wie die Atolle von Vanuatu, wo Menschen auch in Armut rekordverdächtig hohe Glücks-Levels erreichen (gemessen nach dem „Happy Planet Index”). Aber im allgemeinen gilt doch: Hoher Wohlstand macht Menschen deutlich glücklich(er).
In Dänemark, Schweden, Kanada, Australien, ist man langfristig optimistisch. Und weniger zukunfts-ängstlich. Einfach lebens-froher.
Beschäftigen wir uns ein wenig mit den einzelnen Fraktalen des Glücksempfindens:
- Vertrauen: Auffällig ist bei allen Studien, dass die Glücks-Level stark mit den gesellschaftlichen Vertrauensniveaus korreliert sind. Wer in seiner Umwelt eine permanente Verschwörung mit dem Ziel, ihn auszubeuten, fertigzumachen und über den Tisch zu ziehen wittert (wie es in Deutschland weit verbreitet ist), ist selbst dann unglücklich, wenn er jede Menge Kohle hat. Mit anderen Worten: Über unser Glück entscheidet nicht zuletzt unser Menschenbild.
- Bildung: Gebildete sind überall auf der Welt optimistischer und gesünder (beides hängt zusammen). Besonders die Aufwärtsdynamik in der Bildung spielt eine entscheidende Rolle: Wo in Entwicklungsländern die Alphabetisierung deutlich steigt, steigt die Lebenszufriedenheit rapide. Menschen trauen sich mehr zu, sie beginnen, sich zu wandeln. Wo hingegen das Bildungsniveau, wie bei uns, eher stagniert, reagieren Menschen mit Angst und Unsicherheit.
- Freiheit: Soziale Sicherheit durch staatliche Institutionen ist ein Faktor, der die Lebenszufriedenheit prinzipiell positiv beeinflusst. Allerdings kann diese Sicherheit auch in ihr Gegenteil umschlagen, wenn sie zu einem unhaltbaren Generalversprechen wird. Es erweist sich, dass die Länder mit den HÖHEREN ARBEITSSCHUTZ-MASSNAHMEN weniger glücklich sind. Wahrscheinlich überwiegen hier die Ängste vor Arbeitsplatzverlust die inneren Mobilitätswünsche: Glücklich sind nicht Menschen, die ihr Leben lang „sicher” bei einem Arbeitnehmer bleiben, sondern die eine eigenständige Berufslaufbahn gestalten.
- Effektiver Staat: Wenn Menschen sich der Obrigkeit ausgeliefert fühlen, leidet ihr Lebens- und Selbstwertgefühl enorm. Korruption ist deshalb weltweit ein starker Unglücks-Faktor. „Guter Staat” bedeutet hingegen vor allem ein effektiver, funktionsfähiger staatlicher Sektor, der seine Kernkompetenzen ausfüllt, ohne „übergriffig” zu werden.
- Kinder: In den Wohlstandsnationen sind diejenigen Nationen glücklicher, die eine (relativ) höhere Geburtenrate erreichen. Generativität ist ein Glücksfaktor.
Ließe sich aus diesen Erkenntnissen so etwas wie eine „Politik des Glücks” entwerfen? In der Tat können wir durch die Glücksforschung mehr und mehr die Frage beantworten, welche Ziele „gute Politik” anstreben sollte. Viele Beispiele in vielen Ländern können beantworten, wie wir in diese Richtung praktisch vorankommen können. „Glückspolitik”, so wird immer deutlicher, befördert fast automatisch auch die wirtschaftliche Prosperität.
Doch noch wirken solche Ansätze völlig utopisch, blauäugig, wie vom Mond. Glück, so hat man uns schon in der Schule eingebläut, ist nichts, was man anstreben oder gar „designen” darf. Glück kann man nur haben, als Geschenk und Zufall. So bleibt Politik ein Hinterherrennen hinter der Geißel des Bruttosozialprodukts – und genau hier muss sie am Ende versagen.
PS: Wer mehr zum Thema der „gesellschaftlichen Glückswissenschaften” wissen möchte, dem empfehle ich die Arbeiten von Stefan Bergheim. Bergheim gründete 2008 das „Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt” und beschäftigt sich (früher im Rahmen der Zukunftsforschung der Deutschen Bank) seit vielen Jahren mit dem Thema.