Kurz vor Weihnachten kommen ganz neue Belastungen und Bedrohungen auf uns zu. Beunruhigende Zeichen zeigen sich am Horizont. Schulden werden abbezahlt. Defizite verringern sich. Börsen steigen. In Spanien, Irland, selbst in Griechenland sieht man lachende Menschen beim Weihnachtseinkauf. Dürfen die das?
Ist die Krise zu Ende? Niemals! Wir hatten uns doch gerade erst an sie gewöhnt! Wo sind die Experten des Schreckens hin? All die Dreitagebart-Börsen-Experten, die älteren Herren mit den buschigen Augenbrauen, die uns seit drei Jahren mit absoluter Sicherheit vorhersagen, dass a) Griechenland demnächst untergehen , b) unser Geld von Hyperinflation und Schwindsucht gefressen wird, der Wohlstand für immer den Bach heruntergeht, c) in allen europäischen Großstädten bürgerkriegsähnliche Unruhen ausbrechen. Wie kommen Will/Plasberg/Jauch & Co dazu, harmlose Talkrunden über Randaleprobleme beim Fußball zu veranstalten?
Süchtig nach Angstbotschaften
Warum fühlen wir uns in Krisen auf eine paradoxe Weise wohl? Darauf gibt die Kognitionsforschung neue Antworten. Sie beschäftigt sich mit den sogenannten Negativitätsvorteilen, die Menschen regelrecht süchtig nach Angstbotschaften machen. Krisenstimmungen intensivieren das Leben. Schon allein das Wort „Krise“ setzt einen Adrenalinimpuls in Gang, dessen ursprünglicher Sinn uns von der Evolution mitgegeben wurde. Der Säbelzahntiger vor der Höhle mobilisiert unsere Kräfte. Kämpfen oder flüchten?
Im Zweifelsfall setzen wir uns lieber tiefer in den Fernsehsessel. Dort ordnen Experten für uns die verwirrende Welt in Schwarz und Weiß. Alles Differenzierte wird ausgeblendet. In der Urzeit war das dazu gedacht, besser kämpfen zu können. Heute erhöht es den mentalen Komfort, weil wir a) anderen die Schuld zuweisen und b) uns sehr selbstgerecht dabei fühlen können. Hab ich’s nicht immer schon gewusst?!
Der Psychologe Daniel Kahnemann beschreibt in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ den „Cognitive-Ease“-Effekt: „Vertrauen in ein Urteil bedeutet keineswegs eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieses Urteil auch zutrifft. (…) Es beschreibt vielmehr die kognitive Erleichterung‘, mit dem es mental prozessiert wird (…) Deklarationen eines hohen Vertrauens in eine Aussage erzählen uns zuallererst, dass ein Individuum eine KOHÄRENTE Story im Kopf konstruiert hat, nicht dass diese Story wahr ist.“
Wann ist die Krise WIRKLICH zu Ende?
Die nächste Stufe heißt „Confirmation bias“ – Bestätigungs-Verzerrung. Man nimmt nur noch Informationen wahr, die die Klischees bestätigen. Kapitalismus böse. Politiker dumm. Europa kaputt. Der alte Steinzeitmensch meldet sich zu Wort. Und fühlt sich eigentlich ganz komfortabel. Wann aber ist die Krise WIRKLICH zu Ende? Nie. Dass Krisen normal sind eine Botschaft haben, dass man sie überwinden und aus ihnen lernen kann – ein erwachsener Umgang mit Problemen also – ist in der überreizten Medienwelt kaum vermittelbar.
Längst ist aus der Angst eine Industrie geworden, eine „Fearconomy“, in der immer mehr Kanäle ein Heer von Krisen-Experten ernähren, das immer neue Übertreibungen in die Welt setzt. „Die Sorge um die Zukunft hilft der Herrschaft der Gegenwart; gegebenenfalls baut man dazu ein paar Tempel“, formulierte der Feuilletonist Georg Seeßlen.