Es gehört zum Prinzip der Medien, sich an jedem Skandal zu mästen. Wenn die Erregungsökonomie um sich selbst zu kreisen beginnt, ist es Zeit, aus dem Diskurs auszusteigen.
Welche Attribute werden Historiker eines Tages für unsere Gegenwart finden? Gibt es überhaupt so etwas wie einen Zeitgeist? Ich glaube schon, auch wenn dieser nicht an exakte Jahrzehnte gebunden ist. Nach den rebellischen 70er-Jahren kamen die wilden 80er (Individualisierung und Hedonismus), die in die euphorischen 90er-Jahre übergingen (Fall der Mauer, neues Europa). Die Nuller-Jahre waren von globalen Konflikten und dem Aufstieg neuer Mächte geprägt: Eine Episode der Angst, die sich Ende 2008 mit der Finanzkrise noch einmal steigerte.
Seitdem leben wir im Zeitalter der Desillusionierung. In einem geistigen Klima der unentwegten Ent-Täuschung, der Vertrauens-Deflation. Es vergeht kein Tag, an dem nicht eine Ikone fällt, ein Denkmal geschleift wird. Alice Schwarzer, die Meisterin der moralischen Geste – auch nur eine Steuerhinterzieherin. Barack Obama, die Lichtgestalt – eigentlich nur ein scheiternder Bürokrat. Richard Branson, der kreative Hippie-Unternehmer – ein Blender und Betrüger, wie es in einem neuen Buch heißt, dessen These fröhlich von den Medien aufgegriffen wurde.
Nicht nur Helden, auch Institutionen sind vom Virus des galoppierenden Vertrauensentzuges befallen. Europa – eine Gurkentruppe mit hohen Spesen. Die Banken – nur noch ein Hort von Vampiren in Anzügen. Deutsche Krankenhäuser – ein Sumpf von Ärzte-Fehlentscheidungen und mangelnder Hygiene.
Das Internet, dieses globale Befreiungsuniversum, hat sich in eine Spielwiese für die Mächte des Bösen verwandelt, selbst die Auguren der digitalen Welt wie Sascha Lobo halten es inzwischen für verderbt. Und soeben mutierte eine ehrwürdige Traditionsinstitution zum Batterie- und Reifendealer. „ADAC, TÜV und Stiftung Warentest – wem können wir überhaupt noch trauen?” titelte Focus triumphal.
Ist dieser Prozess der Vertrauenszerstörung nicht notwendig, heilsam, ja überfällig? Aus der griechischen Philosophie stammt der Begriff der Katharsis, jener Reinigung, in der wir der Wahrheit ins Auge sehen und uns von Illusionen verabschieden.
Was aber ist die Wahrheit jenseits der Illusionen? Alle Politiker sind prinzipiell korrupt? Niemandem kann man trauen? Die Des-Illusionierungen leben weniger von echter Empörung und Kritik als von kompensierter Langeweile, plus selbstgerechter Schadenfreude. Dazu passen die aktuellen Groß-Ritualisierungen wie das Dschungelcamp. Dort schaut man den bereits Gedemütigten bei weiteren Demütigungen, Abwärts-Entertainment, das längst auch die Gebildeten befallen hat.
Jedes Individuum, aber auch jede Gesellschaft, braucht Idealisierungen, Hoffnungen auf bessere Zukunft. Vertrauen ist die innere Substanz der Welt. Angst haben muss man vor den Polarisierungen, die sich jenseits der Des-Illusion abzeichnen. Und die Katharsis bleibt unvollständig, solange der wichtigste Spieler auf dem Feld verschont bleibt. Es ist der verselbstständigte Apparat der Medien, der sich an jedem Skandal mästet und jede bizarre Übertreibung und Vereinfachung verstärkt. Eine Korruption, die vielleicht viel monströser ist als alle Korruptionen, die sie kritisiert. Wenn die Erregungsökonomie um sich selbst zu kreisen beginnt, ist es Zeit, aus dem Diskurs auszusteigen. Und auch den Misstrauern zu misstrauen.
Berliner Zeitung, 05. Februar 2014