Transferunionen des Lebens

Unser Sohn hat in diesem Frühjahr Abitur gemacht. Nicht gerade eine einfache Lebensphase. Anders als alle anderen Jugendlichen in unserer Bekanntschaft (so scheint es uns jedenfalls) weiß unser Sohn nicht so recht, wohin er will. Er neigt zu spätem Zubettgehen und nachmittäglichem Aufstehen. Zu mürrischen Worten und Ausreden. Also treten wir mit ihm in den Zustand der Transferunion ein.

Du kriegst Taschengeld, sagen wir, aber daran sind Bedingungen geknüpft. Früher aufstehen. Ein Ferienjob. Studieren von Studienangeboten. Mithelfen im Haushalt. Solange du die Füße… Aber nein, so formuliert man das heute nicht mehr!

Neulich war ich auf La Gomera, einer kanarischen Insel. Die Landschaft ist karg und grandios. Viele Deutsche wandeln in den Bergen. Doch alle Straßen sind auf eine Weise ausgebaut, dass man nur neidisch werden kann. Doppelspurig, mit beleuchteten Tunneln und sauberen Seitenstreifen. Kein einziges Schlagloch auf zweihundert Inselkilometern. Alle hundert Meter nagelneue Verkehrsschilder. EU-Gelder, sagte man uns, aus Brüssel, Randgebietsförderung. Davon profitieren die Kanaren schon seit Jahrzehnten.

Nun sind die Griechen keine Söhne. Was haben wir mit Iren oder Portugiesen oder Spaniern oder Italienern zu tun? Wenn wir deren Schulden übernehmen, werden wir nach allen Regeln der Kunst abgezockt. Wir kennen doch unsere Pappenheimer. Man reicht den kleinen Finger und verbrüht sich die ganze Hand.

Das Problem ist nur: Transferunionen sind das Wesen der Welt, das Wesen der menschlichen Kultur überhaupt. Sobald wir eine Familie gründen, also überhaupt geboren werden, als Angestellter arbeiten, eine Straße befahren, ist es schon vorbei mit der reinen Autonomie. Ständig gehen wir Kontrakte ein, in denen wir für Glück und Elend anderer verantwortlich sind. Wir können machen, was wir wollen. Wir hängen mittendrin.

Auf jeder Veranstaltung höre ich die Brandreden gegen die „Transferunion”, die Europa auf keinen Fall werden darf. Aber was soll Europa dann sein? In Deutschland zum Beispiel haben wir einen Sozialstaat. Das bedeutet, dass wir auf irgendeine Weise zuständig sind, wenn Leute keine vernünftige Ausbildung machen, zu viel fernschauen oder saufen. Wir haben ein Gesundheitssystem, in dem wir für Kettenraucher und Extremskifahrer aufkommen. Ist das gerecht? Ein reines Transfersystem! Wenn einer dem Nikotin verfällt, kriegt er auf meine Kosten eine neue Lunge. Das Rentensystem lebt vom Transfer der Generationen. Kaum ist man geboren, muss man schon für alte Leute sorgen, die man nie gesehen hat.

Transfersysteme sind das Wesen menschlicher Kooperation. Die Frage ist, wie weit ihr Radius reicht – und wie klug sie gestaltet sind. Anzunehmen, dass jeder betrügt, ausbeutet, überzieht, verrät ein Welt- und Menschenbild, auf dem Kooperation und Vertrauen nicht gedeihen können. Um eine Zukunft zu haben, brauchen wir, was der Spieltheoretiker Garett Hardin eine „fundamentale Ausweitung der Moralität” nannte: neue, intelligentere Transfersysteme, die nicht alles erlauben, aber mehr möglich machen. Konditionale Kooperation nennt man das in der Spieltheorie. Neulich haben wir meinem Sohn kurzfristig die Transfers gestrichen, weil …

Aber das ist eine ganz andere Baustelle.

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