Singen für Deutschland

Ein deutsch-finnisches Künstlerpaar hat einen Jammer- und Beschwerdechor ins Leben gerufen. Das sollte bald Schule machen.

Zu den Innovationen, die Deutschland besonders benötigt, gehören Jammerchöre. Eigentlich heißen sie Beschwerdechöre, bei Wikipedia finden wir unter diesem Stichwort: „Ein Beschwerdechor ist ein gemischter Laien-Chor, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, alltägliche Beschwerden und Mühsale auf musikalische Art und Weise gesanglich zu präsentieren. Durch diese kunstvolle Art des Lamentierens und der gemeinsam erlebten Beschäftigung mit den selbst formulierten Unbilden des Lebens wird auf fröhliche wie pseudo-therapeutische Art ein Missstand verarbeitet.“ Erfunden wurde diese Protest- und Kunstform vom deutsch-finnischen Künstlerpaar Kochta-Kalleinen. „Menschen verbringen sehr viel Zeit damit, sich zu beschweren,“ meinen die Initiatoren. „Wir wollten diese negative Energie in etwas Lustiges und Kraftvolles umwandeln.“

Ich finde, in Deutschland muss mehr gesungen werden. Singen und Dagegensein haben hierzulande eine lange Tradition. Man könnte die Jammerindustrie durch Zusammenlegung von Singen und Dagegensein viel schöner und erfolgreicher machen. Millionen völlig unnützer Nörgel-Kommentare im Internet müssten nicht geschrieben werden.

So könnte man zum Beispiel kräftig gegen schönes Wetter ansingen, wie es uns zu Pfingsten heimsuchte. In der Berliner Zeitung hieß es vor dem heißen Wochenende ahnungsvoll: „Problematisch wird angesichts der schwülen Temperaturen auch der Alkoholkonsum – nicht nur für die Gesundheit, sondern auch im Verkehr. Denn über die Feiertage zieht es bei schönem Wetter viele Menschen aufs Wasser und dort komme es derzeit gehäuft zu Fahrten unter Alkoholeinfluss, warnte ein Polizeisprecher. Ab 0,5 Promille Alkohol im Blut werden Bußstrafen verhängt.“ Unglaublich! Aber das Wetter war nicht nur schön, sondern auch noch heimtückisch: „Nach der Gluthitze kommt der große Knall – Wetter in Deutschland unberechenbar“ – „Kaum ist es heiß, droht schon wieder Donnerwetter!“ Unwetter & Weltuntergang wurden, in dieser Kombination, zum stark verbreiteten Twitter-Tag.

Früher war blauer Himmel berechenbar, verlässlich, solide. Gewitter waren damals eher Regenschauer. Wie ja damals überhaupt alles besser war – die Ehen, die katholische Kirche, der Zahnarztbesuch.

Was sich mit solchen wunderbaren Chören noch alles anstellen ließe! Anti-Putin-Chöre könnten mit Putinversteher-Chören um die Wette singen. Jörg Kachelmanns Fanchor könnte gegen Intendanten und böse Frauen ansingen, Alice Schwarzers’ gegen Steuerdiskriminierung. Sarrazin könnte einen feschen Ausländer-Dagegenchor leiten, bei dem Inder in Baströckchen auftreten. Die politische Kultur würde sich radikal ändern. Anti-Europa-Parteien könnten in Fußgängerzonen den Antigurkenkrümmungsverordnungs-Rap intonieren. Rechtsradikale ziehen nicht mehr finsteren Blicks durch Seitenstraßen, sondern schmettern „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ vorm Kaufhof. Man könnte gegen Bahnhöfe, Flughäfen, Baustellen, Staus, Winde und Hunde ansingen, gegen Generationskonflikte, Prekariat, Walfang, Inflation, Deflation, gegen ADSH, ADS, HIV, Cholesterin, und Laktoseintoleranz. Womöglich auch gegen Fußballergebnisse. Alles wäre viel besser – aber will das überhaupt jemand?

Berliner Zeitung, 11. Juni 2014

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