Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer: Diese populäre These macht beinahe täglich Schlagzeilen. Aber stimmt sie überhaupt?
Warum irren Ökonomen so oft – und so heftig? Die „ewigen Wahrheiten“, nach denen Preise immer objektiv, Märkte allwissend und staatliche Transfers schädlich sind, kamen lange Zeit im Duktus ewiger Naturgesetze einher. Erst nach der Krise von 2009 formulierte (ausgerechnet) der Chefökonom der Weltbank die Grenzen dieses Modells: „Ökonomie ist nicht Physik. Die Zusammenhänge sind komplex, klinisch saubere und wiederholbare Experimente gibt es nicht, und der entscheidende Akteur ist der Mensch – dessen Verhalten oft nur schlecht prognostizierbar ist.“
Wer das Ökonomische voraussagt, muss Gesellschaft verstehen – ihre Vielfalt, Widersprüchlichkeit, ihre Dynamik. Erst als vernetzte Wissenschaft, im Kontext von Psychologie, Anthropologie, Komplexitäts- und Kulturwissenschaft, macht die Lehre vom „Oikos“, dem Haushalt, Sinn. Und trotzdem scheint der Bedarf nach normativen Welt-Deutungen ungebrochen. Das zeigt das jüngste Beispiel, der Aufstieg des Thomas Piketty zum Kultstar. Auch wenn in Hunderten Artikeln inzwischen gezeigt wurde, wie Piketty in seinem Buch „Kapital im 21. Jahrhundert“ verkürzt, schlampt und schlawinert, scheint dies sein Theorem nur noch zu stärken. Das ist wie bei anderen populistischen Mythen auch. Es gab nie eine europäische Gurkenkrümmungsverordnung. Aber schon das Grölen über die Gurkenkrümmungsverordnung macht eine unumstoßbare Wahrheit daraus. Luhmann nannte das einmal „Erwartungen von Erwartungen“.
Die Reichen werden reicher, die Armen immer ärmer. Stimmt das überhaupt? Und wenn ja – was bedeutet es?
Reichtum ist nicht das Problem – Armut ist es zweifelsohne
Menschen sind nicht arm – außer in Feudalgesellschaften -, weil Wohlhabende ihnen „das Geld wegnehmen“. Arme sind arm, weil sie am gesellschaftlichen Wohlstand nicht teilhaben können.
Es war diese Art, über die soziale Frage neu nachzudenken, die um die Jahrtausendwende die Inklusionstheorie schuf. Vordenker, Soziologen, kluge Politiker und empirisch denkende Ökonomen verzweifelten an den klassischen linken Sozialstaatsmodellen. Schlichte geldliche Umverteilung schien die sozialen Probleme nur noch zu verschärfen. Es entstanden verhärtete Ghettos, ganze Dynastien von Wohlfahrtsempfängern, die ihre eigene Sprache, Verbitterung und Gewaltverhältnisse pflegten.
In einer individualisierten Wohlstandsgesellschaft verändern sich die Parameter der Armut. Nicht mehr Geld allein entscheidet über das persönliche Schicksal, sondern Zugang: zu Bildung, Wissen, kulturellen Kompetenzen. Der Künstler kann von 700 Euro im Monat ein hochintegriertes Leben voller Chancen führen, während der lebenslang Vollangestellte eigentlich zum Prekariat gehört. In einer derart volatilen Welt muss der Sozialstaat zur Teilhabe herausfordern, die Abgehängten aus ihren Ghettos heraus motivieren, anstatt sie vor dem Fernseher zu alimentieren. In diesem Sinne wurden die Hartz-Gesetze in Deutschland geschaffen, deren Absichten jedoch innerhalb kurzer Zeit im Klassenkampfgetöse untergingen.
Die Schere zwischen Arm und Reich geht auseinander – aber asymmetrisch
Die Reichen werden reicher, das ist wahr. Und es ist ganz natürlich. In Friedenszeiten entsteht schon durch die Gezeitenkräfte von Zufall und Kompetenzen Reichtum über Generationen hinweg, weil es unterschiedliche Charaktere und Schicksale gibt. Die Lotterie des Lebens kann niemals die gleichen Ergebnisse zeitigen. Aber die Armen werden bei diesem gigantischen Spiel keineswegs ärmer. Mit ganz wenigen Ausnahmen (etwa den USA) haben die untersten zehn Prozent heute nicht weniger verfügbare Kaufkraft als vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren. Das Bild mit der Schere müsste man also so präzisieren: Der eine Arm der Schere bleibt fixiert. Der andere schlägt in weitem Bogen aus. Die Reichen werden reicher, die Armen langsam weniger arm!
Auch global handelt es sich eher um eine Verschiebung Richtung Wohlstand als um Polarisierung. Die Anzahl der global Armen sinkt rapid. Noch 1970 waren fast 40 Prozent der Weltbevölkerung mit einem Einkommen unter einem Dollar bitterarm. Heute sind es, bei massiv gestiegener Weltbevölkerung, noch etwas mehr als zehn Prozent. Ein Aufwärtssog hat den Planeten erfasst – mit allen Konsequenzen für Umwelt und Ressourcenverbrauch.
Im öffentlichen Bewusstsein findet all das nicht statt. Acht von zehn Deutschen etwa glauben, das arme Länder immer arm bleiben werden. 40 Prozent glauben, dass die Reduktion von Geburtensterblichkeit in armen Ländern nur die „Übervölkerung“ erhöht. In Berlin formulierte Bill Gates neulich auf einer Pressekonferenz einen wütenden Appell gegen diese komfortable Negativität: „Der Glaube, dass die Welt immer schlechter wird, dass wir extreme Armut und Krankheiten nicht heilen können, ist nicht nur falsch. Er ist schädlich! Dieser negative Glaube würgt den Fortschritt ab und macht uns blind für Gelegenheiten, die Dinge zu verbessern!“
Auch das Geld der Reichen ist produktiv.
Bei Karl Marx, Sahra Wagenknecht und Dagobert Duck haben wir gelernt: Reiche horten ihre Kohle. Dagobert liebt es, sein Geld „in die Luft zu werfen und es mit Freude niederprasseln zu lassen“. Der Geizkragen erweist sich gegenüber seinem prekariatsgefährdeten Neffen Donald abwechselnd als hartherzig und großzügig. Was dessen Lernkurve erstaunlicherweise ganz guttut . . .
Nun gibt es tatsächlich Menschen, die mit ihrem horrenden Geld nichts Gescheites anstellen. Im Trivialfernsehen können wir allabendlich das Ehepaar „Geissens“ als monströses Monument ungebildeten Reichtums bewundern. Aber jede hässliche Yacht, jedes schreckliche Kleid, jeder süße „Schampi“ trägt zum öffentlichen Wohlergehen bei. Selbst wenn der Reiche sich hinter Bunkermauern verschanzt, muss jemand die Alarmanlage warten. Da dieser Jemand ein technischer Spezialist ist, entsteht dadurch sogar Bildung.
Und nicht nur in Amerika entwickelt sich derzeit eine neue Kultur von „Social Active Wealthyness“ – sozial aktivem Reichtum. Die Gründer von Amazon, Facebook, Google wollen immer mehr die Welt retten. Multimilliardäre wie Buffett oder Gates spenden nicht nur große Teile ihres Vermögens, sie geben auch unternehmerisches Wissen, Energie, Engagement. Peter Singer analysierte diesen Trend in einem TED-Vortrag mit dem Titel „Effektiver Altruismus“: „Wenn du eine Menge Geld verdienst, kannst du eine Menge davon sinnvoll anlegen – und selbst dabei noch Sinn erfahren!“
Wohlstand ist eben nicht nur privates Haben…
… wie Piketty es in seinem ökonomistischen Marxismus definiert. Sondern auch gesellschaftliches Sein. Jene Infrastruktur aus Straßen, Läden, Museen, Parks, Pensionssystemen, Krankenhäusern, Schwimmbädern, aber auch von gesellschaftlichen Vereinbarungen – Höflichkeiten, Verträgen, Toleranzen – bildet einen ungeheuren öffentlichen Reichtum, an dem auch Arme teilhaben können. Die Flüchtlinge, die in Booten über das Mittelmeer kommen, wollen nicht in erster Linie Geld. Sie suchen eine Welt, in der nicht das Faustrecht regiert. Zivilisatorische Errungenschaften schätzt man erst, wenn sie existenziell bedroht sind. Wohlstand ist letztlich das Resultat von erlebtem und gelebtem Vertrauen. Bei völliger Abwesenheit von Vertrauen könne man morgens nicht mal das Bett verlassen, schrieb Niklas Luhmann.
Armut wird – als relativistisches Phänomen – niemals völlig verschwinden. Je reicher eine Gesellschaft, desto skandalöser erscheinen aber ihre Unterschiede. Auf dieses Paradox kann man mit dem alten populistischen Geifer reagieren, wie er täglich in der medialen Erregungskultur eingeübt wird. Die Alternative ist: den Sozialstaat besser produktiver, klüger, dynamischer machen. Dafür lässt sich durchaus ein breiter gesellschaftlicher Konsens finden, zu dem auch die Wohlhabenden gehören. Wenn uns aber zur „sozialen Frage“ nichts Besseres einfällt als die ewigen Gebetsformeln des Klassenkampfes, dann steht es tatsächlich schlecht um die Zukunft unseres Wohlstands.
Salzburger Nachrichten, 23.06.2014