Nach der Erlösung vom Internet

Spätestens mit den Facebook-Bildern von toten Kindern im Gaza-Streifen, die heute unter jedem Katzenbild stehen, wünscht man sich wieder einen qualifizierten Redakteur, der wirksame Zensur gegen Leute ausübt, die nicht schreiben und denken, sondern nur ihr Spiel treiben wollen.

Sascha Lobo, unser liebster Internet-Irokese, ging in seinem letzten Spiegel-Kommentar einen ungewöhnlichen Schritt. Er fragte seine Leser, wie es weitergehen solle mit seiner Kolumne, in der er seit den Enthüllungen von Edward Snowden einundsechzig (!) mal einen Wutausbruch gegen die globale Datenüberwachung inszenierte. „Mit einem tollwütigen Tiger im Raum verwandelt sich jedes andere Gespräch in einen schlechten Scherz zur Ablenkung“, argumentiert Lobo. Am Ende musste er offenbar selber gähnen.

Sascha Lobo hat nach unserer Meinung gefragt. Hier ist meine: Sascha, ich glaube, Du lenkst ab. So, wie ein Mensch sich manchmal Schmerzen zufügt, weil es ganz woanders noch viel mehr wehtut, versuchst Du uns und Dich selbst vom eigentlichen digitalen Abgrund abzulenken.

Das Internet ist kaputt. Diesen Satz hast Du selbst geschrieben. Aber das liegt nicht an den bösen Geheimdiensten. Vor einigen Wochen stellten Idioten in Freiburg ein gefälschtes Phantombild eines angeblichen Mörders ins Netz. Man sollte ihn doch mal „bei Nacht besuchen“. Die Tochter von Robin Williams bekam Hasstiraden nach dem Tod ihres Vaters und verabschiedete sich wohl für immer aus den „sozialen Medien“. „A Wonderland for Pathological Liars and Attention Whores“ nannte eine US-Zeitung neulich die Shitstorm-Welt des Internets. Es lässt sich nicht leugnen: Das Internet (seine bedingungslosen Verknüpfungsmöglichkeiten) hat wesentlich zur Paranoisierung, Hysterisierung, Verblödung des öffentlichen Raumes beigetragen.

Spätestens mit den Facebook-Bildern von toten Kindern im Gaza-Streifen, die heute unter jedem Katzenbild stehen, und seit Putins Adepten den Datenraum als Propagandaform entdeckt haben, wünscht man sich wieder einen qualifizierten Redakteur in einer guten, alten Zeitung, der wirksame Zensur gegen Leute ausübt, die nicht schreiben und denken, sondern nur ihr Spiel treiben wollen.

Jede Generation muss ihre revolutionären Kinderstuben irgendwann hinter sich lassen. Für mich war es vor Jahr und Tag die Idee vom solidarischen Kollektiv, vom glorreichen alternativen Leben. Als das nicht klappte, versuchten wir eine Weile, den „Bullenstaat“ verantwortlich zu machen. Deine Generation hat über weite Strecken an das Internet geglaubt wie an eine Erlösungsreligion. Ihr wart die coolen „Natives“, die Stars der kommenden Welt, die sich auf jedem Kongress feiern ließen. Was das Internet nicht alles können sollte! Geteilte Wirtschaft! Erleuchtete Innovation! Neue Öffentlichkeit! Radikale Demokratie! Revolution eben, das verstehe ich gut – wer möchte nicht Avantgarde eines Umbruchs sein, dessen Zeit gekommen ist? Aber gerade dieser Dopamin-Rausch führt immer wieder in tragische Illusionen. Technologien sind niemals „gut“. Sie sind ein Spiegel, in dem wir uns als Menschen wiedererkennen können. Und weitermachen müssen. So oder so.

Von dieser notwendigen Trauerarbeit möchten wir lesen. Wie geht es weiter nach der digitalen Illusion? Wer kann es mit Evgeny Morozov aufnehmen, dem brillanten Radikalkritiker des Netzes? Oder mit Laron Lanier? Sascha, Du kannst das. Nebenbei: Ich bin mir nicht sicher, ob es eine so gute Idee ist, in einem Raum mit Tiger ständig herumzufuchteln. Irgendwie scheint mir das die falsche Taktik. Sind Tiger nicht auch nur Katzen?

Berliner Zeitung, 20. August 2014

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