Wer soll nur all die Krisen lösen? Von überall her lauern Bedrohungen. Dabei könnte es sich lohnen, sich auf Enttäuschungen einzulassen. Sie sind die Vorhut des wahren Fortschritts.
Wenn man die letzten Silvesterkommentare noch einmal nachliest, findet man Nachdenkliches, Trauriges, tief Nostalgisches. Vor allem ist von Enttäuschung die Rede: Wer soll all die Krisen lösen? Haben wir uns die Welt nicht früher ganz anders vorgestellt? Und werden wir um Himmels Willen in diesem Jahr noch mehr Enttäuschungen erleben? Ent-Täuschung, was für ein wunderbares Wort, wenn man es mit einer Pause intoniert. Eine Täuschung wird uns genommen! Das tut weh. Aber auch gut. Enttäuschung weist zunächst mal auf eine gekränkte Erwartung hin: Wie verlangen von der Welt, dass sie sich soundso verhält. Wenn nicht, reagieren wir sauer. Zwischen Liebespaaren führt dieses Beleidigtsein zum Verlust der Liebe. Zwischen Ich und Welt zum Verlust an Weltvertrauen. Aber wer sich aktiv auf Enttäuschungen einlässt, der wird reich belohnt.Das Internet zum Beispiel: Sollte es nicht die nächste große Human-Revolution mit sich bringen – alles wird gut, supervernetzt und digital? Nun kommt der Hass durch das Netz in die Welt, die sozialen Medien erweisen sich als narzisstisch, regressiv und dumpf. Eigentlich hätten wir das wissen können, denn es sind ja Menschen, die sich mit all ihren Dummheiten, Genialitäten, und Emotionen vernetzen. Technik allein erlöst gar nichts.
Eric Schmidt, Vorsitzender von Alphabet (Ex-Google), hat einen Vorschlag gemacht: Man könnte einen Code entwickeln, der sich auf alle Rechner spielen lässt, und alle Hass-Botschaften herausfiltert. Wir haben schließlich auch Spam-Filter und Porn-Filter. Eine andere Methode wäre das „negative-positive feedback“. „Amazon spendet Erlöse für die Pegida-Hymne an Ausländerhilfe“ – das war ein guter Anfang. Durch geschickte Rückkoppelung ließe sich eine ganze Spendenindustrie aufbauen, die durch dumpfbackige Hass-Kommentare gespeist wird. Hass-Postings bitte hier eintragen! Oder Europa: Fast zwanzig Jahre befanden wir uns in einer Illusionsblase über Europas Kultur- und Lebensmodell. Nach der Meinung des polnischen Außenministers ist heute die schlimmste Gefahr, dass Europa ein Kontinent von Radfahrern und Vegetariern wird. Wenn die Mehrheit der Polen, Tschechen, Ungarn meint, dass es besser ist, katholisch, mit Kohle, frommer Kleinfamilie und endloser Wurst nach dem Lebensmodell der 1950er-Jahre zu leben, müssen wir das akzeptieren. Für uns, die wir an die Zukunft des Radfahrens (E-Bikes) und Vegetarismus (Gourmet-Veggie!), an Liberalität und Weltoffenheit, Vielfalt, Ökologie und Innovation glauben, ist es Zeit, sich etwas deutlicher auszudrücken und zu fragen, ob das Haus Europa nicht eine Grundrenovierung braucht. In großen Familien baut man schließlich auch eine Einliegerwohnung oder ein Nebenhaus, wenn die Lebensentwürfe nicht mehr zusammenpassen. Enttäuschung ist die große, sanfte Schwester der Wirklichkeit. Und die Vorhut wahren Fortschritts. Gesellschaften, die im Turbulenten nicht weiterdenken können, gehen unter. Menschen, die auf Täuschungen beharren, werden muffig und krank. Wer aber seine inneren Bilder variieren kann, erlebt Krisen als das, etwas das Dopamin im Hirn anregt. Dopamin ist jenes Human-Molekül, das für die Zukunft zuständig ist. Für das Lernen und den offenen Geist. Für das Glück und für die Liebe.
Erschienen im Januar 2016 in der Berliner Zeitung.
In Tschechien dürfte das katholisch-reaktionär-nationalistische Rollback nicht so die große Rolle spielen – anders Polen und Ungarn ist die tschechische Gesellschaft seit Jahrhunderten (immerhin begann die Reformation in Böhmen, nämlich mit den Hussiten!) mehrheitlich kirchen- und mittlerweile allgemein religionskritisch eingestellt.
Zum Dopamin: wenn zuviel davon im Hirn herumschwappt, nennt man das Psychose…