Gauck bietet keine moralischen Hülsen, keine wohlklingenden Gewissheiten, sondern Denk-Stücke oder Zweifel. Es erfordert keine große prophetische Gabe um vorauszusagen, dass solch eine Haltung mehr als Unmut erregen wird.
Jetzt sind wir alle froh, dass das grauenhafte Theater ein Ende hat. Ich selbst war schon dabei, meine Koffer zu packen und nach Neuseeland auszuwandern, wenn nur noch EINE Wulff-Talkshow mehr über die Bildschirme geflimmert wäre. Welche Erleichterung, dass nun eine integre, warmherzige, mit dunkler Stimme sprechende Persönlichkeit das zwar nicht höchste, aber symbolträchstigste Amt im Staate übernommen hat.
Doch wir werden uns noch wundern. Denn Joachim Gauck ist alles andere als ein bequemer Volksversöhner ohne peinliches Bankkonto. Gauck hat einen unglaublich unbequemen Lebens- und Arbeitsbegriff: Freiheit.
Mit Freiheit braucht man in Deutschland eigentlich gar nicht erst zu kommen. Der Begriff ist verhunzt, denunziert, durch den Kakao der FDP-Häme gezogen, im Feuer der Finanzmärkte untergegangen, in zementierter Staatsgläubigkeit ersoffen. Die eigentliche Dauertalkshow – dazu braucht man noch nicht einmal einen Fernseher – ist die Rede vom „neoliberalen Kapitalismus”. Wir leben in einer ideologisierten Nörgel-Kultur, die alles vom Staat fordert und jeden seiner Repräsentanten unentwegt scheiße findet. Der Wulff-Skandal passte perfekt in dieses Schema: Wir konnten uns wochenlang wunderbar aufregen, ohne nur ein einziges Mal an unsere eigene Nase zu greifen.
Joachim Gauck wird dieses Spiel sabotieren. Er ist, anders als Wulff, ein echter Buchleser. Er hat einen fast vergessenen Philosophen wiederentdeckt: Helmuth Plessner. Einen Dissidenten und Weltenwanderer, einen universalistischen Lebensweltsoziologen, der quer dachte zu allen Lagern und Ideologien. „Exzentrische Positionalität” lautet das zentrale Stichwort der Plessnerschen Lehre. Solche Wortbildungen lassen sich in Talkshows nur schwer in Erregungseinheiten umformen. Plessner hat die Freiheit aus der Evolution abgeleitet, aus dem Menschwerden selbst. Freiheit entsteht daraus, dass wir uns selbst „von außen” (exzentrisch) reflektieren können. Individualität ist in diesem Weltbild ein Prozess, bei dem wir uns mit unseren eigenen Brüchen, Ängsten und Verlogenheiten auseinandersetzen (also all das, was wir in der Wulff-Debatte gerade lustvoll vermieden haben). Reflexive Individualität ist gleichzeitig die Voraussetzung einer zivilen Gesellschaft, in der nicht jeder nur jammert und fordert, sondern mitgestaltet. Gauck nennt das „Ermächtigung”, ein anderes Wort für Emanzipation.
Es erfordert keine große prophetische Gabe um vorauszusagen, dass solch eine Haltung mehr als Unmut erregen wird. Schon grassieren im Netz die Denunziationen mit den üblichen gefälschten und zerrissenen Zitaten. Gauck überschreitet alle Schützengräben, in denen wir uns so nett eingerichtet hatten: links gegen rechts, sozial gegen Markt, gerecht gegen Leistung. Er bietet keine moralischen Hülsen, keine wohlklingenden Gewissheiten, sondern echte Denk-Stücke, Zweifel, Fragen. Der Boulevard-Moralismus war bequem, weil wir von unserer kleinen Steuerhinterziehung ablenken konnten, während wir von „denen da oben“ schöne Worte einklagten. Jetzt haben wir den Salat. Jetzt kommt einer, der es ernst meint. Mit Joachim Gauck haben wir uns einen Intellektuellen eingehandelt, der tatsächlich von der Zukunft spricht. Wetten, dass uns das schon bald schwer auf die Nerven geht?