Österreich mag unfähig zu großen Reformen oder Visionen sein. Aber ist das wirklich schlecht?
Dass Österreich ein rückwärtsgewandtes Land ist, unfähig zu jeder vernünftiger Reform, stagnierend zwischen verknöcherten Institutionen und unfähigen Bürokraten, bedroht von Korruption und Vollvergreisung – so etwas liest man jeden Tag in den österreichischen Zeitungen. Als hierzulande lebender Ausländer reibt man sich da eher die Augen. Man erlebt: blühende Städte mit reichhaltiger Kultur, eine Hauptstadt, die jedes Jahr auf Platz eins oder zwei der internationalen Lebensqualität gewählt wird, Platz fünf oder sechs hält das Land auf der internationalen Skala des Weltwohlstandes, grüne Landschaften, viele kleine agile Unternehmen, eine meist recht entspannte Zivilgesellschaft, um die andere einen nur beneiden können.
Die Wirklichkeit ist, wie uns der philosophische Konstruktivismus gelehrt hat, nichts als ein Sinngespenst im Kopf. Doch die Illusionen, die wir über die Wirklichkeit pflegen, sind eben auch geschichtsmächtig: Wir formen mit unseren Modellen, Bildern, Erwartungen die wirkliche Welt. „Wir konstruieren Zukunft als antizipierte Erinnerungen“, formulierte Daniel Kahnemann, der große Kognitionspsychologe.
Österreich ist ein kleines Land mit einer großen Vergangenheit. Wenn man die Vorgänge in Russland oder anderen Ex-Imperien, oder auch in Ungarn vergleicht, wird schnell klar, worin seine erste historisch-kulturelle Leistung besteht: damit klarzukommen, dass die Rolle eine andere geworden ist, ohne sich ins Grundgefühl der tiefen Bitterkeit zu steigern. Österreicher sind, wie Enzensberger formulierte, „Helden des Rückzugs“. Sie wissen, dass Kleinheit in der vernetzten Welt eine Größe sein kann. Ländern wie Finnland, Holland, Dänemark geht es in Europa nicht nur außergewöhnlich gut. Sie sind oft auch Reformtreiber, weil sie ihren inneren Konsens konstruktiv nutzen können.
Österreich mag unfähig zu großartigen Reformen oder emphatischen Visionen sein. Aber ist das wirklich schlecht? Die ideologische Polarisierung, die immer noch ganze Gesellschaften spaltet – das ewige Hin und Her zwischen neoliberalen und gleichmacherischen, linken und rechten Erlösungsfantasien – bringt die Gesellschaft nicht weiter. Die Schweiz integriert in ihrem Konkordat (weitgehend) die politischen Lager. Im Norden arbeiten bisweilen ALLE Parteien zusammen, auch die Deutschen fahren mit ihrer Großen Koalition besser als mit dem zyklischen Wir-machen-alles-ganz-anders-Welterweckertum, das am Ende nur dem populistischen Furor die Steigbügel hält.
Auch an Innovationen ist das Land nicht gerade arm – auch wenn manche von ihnen wenig spektakulär erscheinen. Die erste große Bio-Supermarkt-Marke stammt aus Österreich, ebenso ein weltumspannendes Stimulationsgetränk, das inzwischen selbst China erobert. Viele von Österreichs Winzern sind Protagonisten einer urban geprägten internationalen Genusskultur. Im Alpentourismus schafft man – nicht immer, aber immer häufiger – die Symbiose zwischen Weltoffenheit und Natürlichkeit. Bio boomt vor allem in modernem Design, und in Vorarlberg findet man die besten Designhäuser Europas – allerdings weitgehend unbemerkt von den Österreichern selbst. „Design“ und „Innovation“ buchstabiert sich aber in Zukunft auf noch ganz andere Weise. Es sind weniger die technischen als die sozialen Innovationen, die über unser aller Zukunft entscheiden. Und hier hat Österreich einen weiteren (verborgenen) Schatz zu bieten: Eine zivilgesellschaftliche Tradition, die sozialistische und konservative Strömungen durchaus erfolgreich integrieren konnte.
Die Zukunft Europas gehört den intelligenten Regionen. Landschaften, Clustern, die über sich selbst hinauswachsen, eben WEIL sie sich nicht in ständiger Abgrenzung empfinden müssen. Intelligente Regionen sind in ihrem Wesen transnational – sie können die Größe von kleinen Nationalstaaten annehmen, aber auch konzentrierte Kerne bilden, die miteinander kooperieren. Südtirol und Oberösterreich, Bodenseeraum und Pannonisches Becken sind SELBST intelligente Regionen (oder haben das Potenzial dazu), die sich zu Regionen-Clustern zusammenfügen. Sie leben von Ökonomien, in denen die Devise „High Tech/High Touch“ gilt. Dazu braucht man kein Silicon Valley, aber ein Innovationsdenken, das Kunst, Humankultur und Wissenschaft in ein neues, universelles Verhältnis setzt. Innovation wird ausgerichtet an Fragen der Lebensqualität, nicht daran, wer der Schnellste, Größte, Mächtigste ist. Eine solche „inverse“ Ökonomie ist erstaunlich krisenresilient. In der „glokalisierten“ Welt zählt nicht mehr Masse, sondern Adaptionsfähigkeit. Nicht mehr Macht und Größe, sondern Vernetzungsintelligenz.
Die wahre Zukunft Europas ist GLOKAL: Global denken, regional zusammenfügen. Als ambitionierter Austriake musste man schon immer reisen, aufbrechen aus den Tälern, um dann zurückzukehren. Und so sind die Kultur- und Wissenseliten hier womöglich kosmopolitischer als in Berlin, jener großen Provinz, die man nicht unbedingt verlassen musste. Österreichs Rolle bei der ökonomischen und politischen Integration Osteuropas ist längst noch nicht erfüllt. Österreichs Möglichkeiten in einem GLOBALEN Europa stehen noch bevor.
Warum aber dann doch diese hartnäckige Bereitschaft zur Abgrund-Rhetorik und Negativität im Denken? Vielleicht ist auch die üppige österreichische Jammerindustrie auf Traditionen zurückführbar. Österreich hat schließlich das Internet erfunden. Im 19. Jahrhundert hieß das soziale Netzwerk Kaffeehaus, man übte dort bereits das, was heute den ewigen Shitstorm antreibt: Sitzen und Besserwissen, Zeigefingern und Bewerten, Schimpfen und Vernadern. Das Höfische und das Vernetzte. Das Eitle und das Verzweifelte. Das Klagende und Radikale. All diese historischen Symbiosen kommen im großen digitalen Kaffeehaus wieder zusammen. In diesem Sinne sind Österreicher, damals wie heute, echte Avantgarde.
Salzburger Nachrichten, 26. April 2014
Schon allein die deutschen DB-Gewaligen incl. Bundesverkehrsminister sollen in Austria öfters Zug fahren – die wissen es besser, wie es auch geht!