Krisen setzen Kräfte frei
Abends, nach dem vierten Gang, auf einer klassischen Business-Konferenz: Ermattete Manager der deutschen Industrie in gedeckten Anzügen an jedem Tisch, dazwischen die eine oder andere „Gattin”. Der Tischnachbar outet sich als Investmentbanker, der sehr wahrscheinlich seinen Job verlieren wird. Er wirkt heiter, wie befreit: „Wir wussten ja alle schon lang, dass das nicht gutgeht”, sagt er beim zweiten Nachtischgang, molekulares Nougatparfait mit echten Goldsplittern. „Schauen Sie sich doch diese Branchen hier an: Autos. Die haben doch seit Jahren nur von den russischen und chinesischen Neureichen gelebt. Innovation? Umwelt? Glauben Sie nicht, was in den Prospekten steht! Die vielgelobte deutsche Technik-Industrie? Siemens, korrupt bis über beide Ohren. Die Medien? Die Werbung? Seit Jahren im Niedergang, da braucht man keinen Reich- Ranicki. Und wir Banken sollen es jetzt gewesen sein.”
Eine seltsam entspannte Heiterkeit
„Und Sie, haben Sie keine Angst vor der Zukunft?” – „Ach was. Etwas wird sich finden. Die Kinder sind in London, meine Frau arbeitet als Pilates-Trainerin, die verdient jetzt richtig gut Geld . . .” Kennen Sie dieses Gefühl? Die Krise, das ist der Abgrund. Alle unsere Gewissheiten und Sicherheiten verschwinden über Nacht. Müssen wir nicht alle zerschmettert sein, tieftraurig, gelähmt, betroffen in der „Größten Krise seit 1929!”?
Aber direkt hinter dem kollektiven Schwindelgefühl blüht eine verblüffende, seltsam entspannte Heiterkeit, eine Leichtigkeit, die wir schon lange nicht erlebt, vielleicht sogar vermisst haben. Es begann mit den Fernsehbildern der jungen Angestellten von Lehman Brothers, die so seltsam heiter und gelöst wirkten, wie sie da mit ihren Büropflanzen und Pappkartons aus dem Epizentrum der Krise herausmarschierten.
Viel Lächeln hinter besorgten Mienen
Dann erschienen über Nacht die Politiker wie befreit; nie sah man auf den x-hundert-Milliarden-Euro-Pressekonferenzen so viel Lächeln hinter streng besorgten Mienen. Wenige Wochen später trifft man nur noch Geläuterte, entspannte Börsenverlierer. Alle reden wie weichgespülte Oskar Lafontaines, wie melancholische Enzensbergers, jeder ein kleiner rückwirkender Prophet. Niemand, der nicht der „Gier” die Leviten lesen würde. Aber nicht alle weisen sie billig den immerbösen Bankern zu.
Die Klügeren fragen sich: Waren wir nicht alle Teil eines mentalen Systems der ewigen Steigerungserwartungen? Wir sind enttäuscht. Wir hatten eine Erwartung, die enttäuscht wurde: Dass alles immer so weiterginge. Hatten wir nicht gut verdient in den letzten Jahren? War das Haus nicht beinahe abgezahlt, der Job gesichert? Wenn nicht eintritt, was man erwartet, ist kindlicher Trotz eine mögliche Reaktion, und eine Variante davon ist der Exzess des moralischen Zeigefingers. In allen Talkshows, in Myriaden von Leserbriefen erhebt sich der Sound der moralinen Häme, der ideologisierten Selbstgerechtigkeit: „Das billigste Vergnügen ist die sittliche Entrüstung”, formulierte Oscar Wilde.
„Der ganze Druck ist plötzlich raus”
Krisen, die angenommen werden, setzen jedoch auch Kräfte frei. Enttäuschungen sind die Momente der Wahrhaftigkeit in der Geschichte. Wer wahrhaftig ent-täuscht ist, verliert seine Täuschungen über die Wirklichkeit. Er versteht plötzlich die Welt tiefer und vielschichtiger. „Der ganze Druck ist plötzlich raus”, sagt eine Bekannte, die im Londoner Kunst-Business arbeitet. Bei den letzten Versteigerungen gab es keine „Kunst- Heuschrecken” mehr, so ihre Bezeichnung für die spekulativen Käufer von Kunst. „Plötzlich saßen da lauter Leute, die wirklich etwas von Kunst verstehen und die Kunst einfach lieben.” Muss nicht in den Unternehmen jetzt die Angst umgehen? „Wenn sich die eigenen Karrierepläne in heiße Luft auflösen, entspannt man sich”, sagt ein Banker. „Das ganze Buckeln und Anstrengen, das ist jetzt weg. Man geht plötzlich ohne Schlips ins Zimmer des Vorgesetzten und redet mit den Kollegen, ohne dauernd dieses Theater zu machen: Wird der andere befördert oder ich?”
„Bubbles” schaffen Infrastrukturen
Finanzblasen sind so alt wie der Geldkreislauf; es gab sie im alten Rom wie in der Renaissance, als im Florenz der Medicis reihenweise Banken pleitegingen. Daniel Gross, Autor des Buches „Finanzblasen – und warum sie so wichtig für die Wirtschaft sind”, zeigt, wie die „Bubbles” Infrastrukturen schaffen, die danach neuen Prosperitätsphasen den Weg bahnen. Die „Tulpenblase” des 15. Jahrhunderts legte den Grundstein für die außergewöhnlichen Züchter-Kenntnisse der Holländer – bis heute sind die Niederlande die exportstärkste Agrarnation der Welt. Die Eisenbahn-Spekulation des 18. Jahrhunderts kostete viele Sparer ihr Geld, schuf aber innerhalb weniger Jahre ein kontinentales Schienennetz in Europa und den Vereinigten Staaten, das nach dem Börsencrash dann auch von den weniger Wohlhabenden genutzt werden konnte. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 entstand das heutige Banken- und Sicherungssystem mit dem Bretton-Woods-Vertrag, das bis heute die Wechselkurse entspannter gegeneinander reagieren lässt als im beginnenden 20. Jahrhundert. Der Zusammenbruch des „Neuen Marktes” im Jahr 2001 hinterließ den „Daten-Highway”, auf dem die Kommunikationsmärkte dieses Jahrzehnts prosperieren konnten.
Auf Jahre billigen Wohnraum
Und die Immobilienblase? Den Amerikanern wird sie als nutzbare Infrastruktur noch für Jahrzehnte billigen Wohn- und Gewerberaum garantieren. Ein schwacher Trost. Nein, ihr wahres Verdienst ist, dass sie den glitzernden Vorhang von unserem „Immer-weiter- immer-mehr-Modell” heruntergerissen hat. Plötzlich erkennen wir, dass alle unsere Schlüsselbranchen, von den Banken über Pharma, Medien, Reisen, im Endlos-Boom der letzten zwanzig Jahre strukturfaul geworden sind. Nun jammert selbst die deutsche Autoindustrie, die jahrzehntelang wahrhaftig genug verdient hat, nach Subventionsgeldern: für – man kann es kaum glauben! – innovative Autos!
Strukturelle Rezessionen, wie wir sie jetzt einige Zeit vor uns haben, sind spannende Zeiten. Menschen und Gesellschaften konzentrieren sich auf die Substanz ihres Lebensmodells. Sie besinnen sich auf Werte. Und sie suchen nach einem neuen, authentischeren Paradigma. Eine der ersten Reaktionen ist das Sparen. Und dieses Sparen wirkt plötzlich befreiend: Man merkt, dass man vieles nicht nur eigentlich gar nicht brauchte, sondern dass die vielen Dinge zu purem Stress verkamen. Man verringert seine Abhängigkeiten – und siehe da: Es geht einem besser! Eine weitere Reaktion ist das Zusammenrücken. In allen Krisenzeiten gewinnen die genetischen Verbindungen, die „strong bonds”, an Gewicht. Familiäre Kontakte werden wiederbelebt. Alte Freunde wieder besucht. Alte Konflikte endlich verstanden.
Wollten wir nicht längst zu uns selbst?
Die Krise entlastet uns von jener lähmenden Linearität, die sich längst zur Regression entwickelt hat. Sie begründet eine neue Wunsch-Ökonomie, in der die Knappheiten plötzlich anders definiert werden. Wo sind die anderen Strategien? Der Plan B? Wollten wir nicht doch schon früher raus aus der Tretmühle, und das kleine Häuschen auf dem Land, das immer nach kaltem Staub roch und nur kostete? Wollten wir uns nicht längst anders unserer Partnerschaft, unserem Seelenleben, unserer Spiritualität zuwenden? Wollten wir nicht längst zu uns selbst? Katharsis bezeichnet nach Aristoteles eine Reinigung. Durch das Durchleben von Jammer und Schauder erfährt der Zuschauer einer Tragödie eine Läuterung seiner Seele von falschen Leidenschaften. Für Goethe war die Katharsis ein Ausgleichen der Leidenschaften, im Sinne einer Vereinbarkeit von „Pflicht” und „Neigung” (Vernunft und Gefühl). In der Psychologie verfolgt die Katharsis die unbewusste Absicht, durch einen Zusammenbruch näher an den Kern verdrängter Konflikte zu geraten.
Eine neue, subjektive Sensibilität
Shakespeares Hamlet, dieser verlorene Zweifler in einer korrupt-feudalen Gesellschaft, formulierte in seinem heute auf vielen Bühnen neu entdeckten Monolog den Zustand der inneren Katharsis. Wenn nichts mehr geht, entsteht eine neue, subjektive Sensibilität: Wenn wir den Drang des Ird’schen abgeschüttelt, das zwingt uns stillzustehn. Vielleicht produzieren Menschen, Gesellschaften, Welt-Gesellschaften auf diese krisenhafte Weise Zukunft. Im Loslassen des Alten entwickeln sie eine neue Realität. Von der „Real- Ökonomie” ist heute viel die Rede. Wie diese aussehen soll, können wir mehr als ahnen: echte Innovationen, vor allem im Bereich der Neuen Energien, der Klugen Netzwerke, der „smarten” Technologien, die uns nicht nur mit Klingelzeichen nerven. Neue Dienstleistungen, die uns nicht bizarre Papiere zugunsten der Bank andrehen, sondern im realen Leben entlasten. Ein Bildungssystem, in dem Lernen nicht mehr eine vergebliche Pflichtübung ist. Wahrhaftige Firmenkulturen, in denen nicht die falsche Schmeichelei herrscht, sondern kreative Anstrengung für alle. Einen neuen Bürgersinn in der Wirtschaft, aber auch in der Gesellschaft. Eine Politik, die die Sprache der polemischen Reduktion überwindet. Die Brückenköpfe dieser Zukunft können wir sehen, wenn wir nur die Augen öffnen. Verbündete für diese Vision gibt es viele. Wenn Blasen platzen, schmerzt das. Aber die Welt ist wieder offen.