Die Zukunft Europas

Was die neue Zukunftsforschung über die Perspektiven unseres Kontinents sagen kann.
Erschienen im TREND UPDATE
(www.trend-update.de)

Spiel- und Systemtheorie an der Universität von New York sagte korrekt die arabischen Unruhen voraus, einschliesslich des Sturzes Mubaraks. Er sah den Enron-Zusammenbruch und viele Firmen-Fusionen kommen und prognostizierte das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen von 2009. Mehr als 90 Prozent seiner Prognosen über weltpolitische und ökonomische Entwicklungen trafen bislang zu. Zu seinen Kunden gehören Regierungen, aber auch die CIA. Kein Wunder, dass er es unter dem Titel „Mr. Future” auf die Titelseite mehrerer US-Zeitschriften schaffte. Kein Wunder aber auch, dass ihm großes Misstrauen entgegenschlägt. Und er in Europa nahezu unbekannt ist. Menschen, die Ahnung von der Zukunft haben, sind uns unheimlich.

Doch Mesquitas Methode ist weder magisch noch obskur. Sie lässt sich in seinem Buch „The Predictioneers Game” (2009) nachvollziehen. Mesquita hat die Spieltheorie, deren Wurzeln bis in die 60er und 70er Jahren zurückreichen, in die politische Sphäre weiterentwickelt. Damals beschäftigten sich legendäre Zukunfts-Gurus wie Hermann Kahn mit Planspielen des Nuklearkrieges. Theoretiker wie der berühmte John Nash (seine Biographie wurde in „A Beautiful Mind” verfilmt), der legendäre John von Neumann („Dr. Seltsam” in Stanley Kubrick gleichnamigem Film) und Thomas Schelling (ein Berater Kennedys) legten die Grundlagen einer dynamischen Betrachtungsweise von Konflikten und Krisen.

Mesquita geht bei seinen Prognosen wie folgt vor:

  • Er bestimmt die Interessen aller handelnder Personen und Institutionen innerhalb eines Konfliktes oder eines Prozesses.
  • Er bewertet die Rolle, Wichtigkeit und Macht der Teilnehmer in hierarchischer Reihenfolge nach einem Punktesystem.
  • Dann übersetzt er dies in die Formelsprache der Spieltheorie und lässt ein Computerprogramm die Hauptarbeit leisten. Dieses rechnet Millionen von Operationen der widerstreitenden Interessen durch – bis ein temporäres Equilibrium (Gleichgewicht) entsteht.

Können wir eine solche Methode auch auf die Eurokrise anwenden? Allerdings, und das geht im Prinzip auch ohne die Rechenkraft von Computern. Wir müssen zunächst fragen: Wer hat ein Interesse daran, dass die Währungsunion auseinanderbricht, der Euro scheitert, die alte Kleinstaaterei zurückkommt?

Teile des spekulativen Geldmarktes

Finanzjongleure könnten aus einer konkurrenten Handelszone mit frei konvertierbaren, volatilen Währungen gewaltige Vorteile ziehen. Hier finden wir einen Schlüssel für die Spekulationswelle gegen den Euro und einzelne europäische Länder, die die jetzige Krise erst auslöste. Aber wir müssen auch wissen: Nicht das GANZE Finanzsystem spekuliert gegen den Euro, sondern nur eine kleine Gruppe von hochspekulativen Zockern (die in etwa dem vom BBC interviewten Alessio Rastani entspricht). Daytrader. Hochgeschwindigkeits-Spekulanten. Hegdefond-Manager. Die Macht dieser Gruppe ist enorm. Aber nicht unendlich. Die großen Finanzinstitute, die in die globale Realwirtschaft investiert sind, verfolgen eher ein Stabilitätsinteresse.

Teile des amerikanischen Kapitals

Es gab praktisch kein amerikanisches Magazin, keine Talkshow, in dem nicht in den letzten Monaten mit triumphalistischem Unterton THE END OF EUROPE verkündet worden wäre. Viele Auguren der US-Wirtschaft äußerten sich mit kaum verhohlener zynischer Genugtuung. Darin spiegelt sich einerseits die Verunsicherung Amerikas als führende Wirtschaftsmacht. Aber auch eine ur-amerikanische Tradition der Abwertung des alten Kontinents. Amerika ist als eine Art Anti-Europa entstanden. Ein großer Teil der amerikanischen Eliten, besonders im Süden, denkt und fühlt europa-verächtlich. Das texanische Kapital dominiert auch die meisten der Rating-Agenturen.

Die nationalistischen Wutbürger

In so gut wie allen europäischen Ländern (außer vielleicht den baltischen Staaten) lassen sich heute antieuropäische Ressentiments organisieren. Anti-Europa-Parteien (versteckte oder offene) bestimmen den Diskurs und regieren immer wieder mit. Selbst im Musterland Finnland. In Ungarn herrscht ein rüder Nationalismus. In Deutschland wollen 50 Prozent der Bürger die DM zurück. 37 Prozent können sich vorstellen, eine europakritische Partei zu wählen. Allerdings sind Umfragen immer mit Vorsicht zu genießen. Die Bevölkerung verhält sich in Meinungsfragen zur Europafrage herdenhaft und opportunistisch. Am Anfang steht immer die Empörungs-Rhetorik, kräftig angeheizt von den Medien. Aber der mediale Populismus kneift schnell den Schwanz ein, wenn es darauf ankommt. In einer ECHTEn Europa-Krise würden sich die Deutschen eher als Europa-Fans outen.

Die Wutprofessoren

Schließlich gibt es noch die Truppe der Kriegsgewinnler, die aus der Krise Auflage, Einschaltquote, Genugtuung schöpfen – narzistische Charaktere im Sarrazin-Stil, Zeigefinger-Ökonomen, die die Eurokrise als eine Art ewig-moralisches Strafgericht verkaufen – die Sünde des Schuldenmachens ist schon ein Thema seit dem Alten Testament… So effektiv diese Gruppe auch durch die Medien pöbelt, ist dies am Ende keine wirklich relevante Gruppe.

Stellen wir nun diesen pressure groups die andere Fraktion gegenüber:

Die europäischen Eliten

In der Zeit der Könige und Kaiser sprach man an den Höfen französisch oder russisch und heiratete über Kulturgrenzen hinweg. Heute ist längst eine neue transeuropäische Elite entstanden. Dazu gehören viele Politiker besonders der kleinen Länder, die englisch sprechen und „brüsselianisch” denken. Aber auch ein großer Teil der „Kreativen Klasse” – jener Europäer in Kunst, Kultur und Medien, die längst in jener grossen Lounge leben, die Oslo, London, Rom, Paris, Berlin, Madrid und Wien miteinander verbindet. Die Anzahl dieser genuinen Kultur-Europäer mag gering sein, ihren Einfluss sollte man nicht unterschätzen.

Die nationale Wirtschaft

Multinationale Konzerne, aber auch die Mehrheit der mittelständischen Betriebe sind schon seit vielen Jahren auf den europäischen Wirtschaftsraum ausgerichtet. Trotz des Grummelns der Wirtschaftsverbände gegen die „Transferunion” würde diese Wirtschaft den Zerfall Europas als Existenzbedrohung sehen.

Die Macht der Anderen

Vor allem aber spielen die „Außenmächte” heute eine gänzlich andere Rolle. Die US-amerikanische Weltdominanz geht zu Ende, und auch der arabische Raum, Indien, Südamerika, haben ein starkes Interesse an einem stabilen Europa, das ein Gegengewicht zu einem zukünftig immer unberechenbareren Amerika sein kann.

Es ist nicht allzu schwer, das Ergebnis dieses Mega-Spiels vorherzusehen. Egal, wie turbulent die einzelnen Spielzüge verlaufen mögen – am Ende wird ein neues Europa mit höheren Integrationsgraden stehen. Dem derzeitigen Rückzug des amerikanischen Kapitals wird eine Infusion östlichen Kapitals folgen. Ob am Ende die schwachen europäischen Peripheriestaaten Teil des Euro-Raums bleiben oder zu Sonderwirtschaftszonen deklariert werden, ob der Euro eher eine harte Kernwährung oder eine weiche Gesamtwährung wird, ist dabei gar nicht so entscheidend.

Bueno des Mesquitas Theorie hat nur ein kleines Handicap.Die Spieltheorie kann vieles erklären, aber sie stößt an einem Punkt an Grenzen: Politischer Irrationalismus… Ein verrückter Politiker, ein Attentat, Unfälle, Katastrophen, Missverständnisse, vor allem kollektive Hysterien – und die Geschichte kann plötzlich in eine ganz andere irrationale Richtung davongaloppieren. Wie wahrscheinlich ist eine solche „unwahrscheinliche” Entwicklung?

Schwarze Schwäne und Angstsyndrome

Im Jahre 2003, noch im Bann von 9/11 und dem Dotcom-Crash, brachte Nassim Nicholas Taleb seinen Bestseller „The Black Swan” heraus. Taleb, ein Wahrscheinlichkeits-Theoretiker und Risiko-Spekulant, analysierte in diesem Buch vor allem die menschliche „Future Bias”. Jene Kognitions-Verzerrung, die uns glauben lässt, dass die Geschichte gradlinig in die Zukunft verläuft. Menschen sind, so Taleb, prinzipiell unfähig dazu, das Überraschende zu antizipieren. Aber das Überraschende regiert die Welt.

Doch selbst der 11. September 2001, dem Taleb seinen Erfolg verdankt, war im eigentlichen Sinn kein „Schwarzer Schwan”. Gleich mehrere Think Tanks und Geheimdienstexperten, darunter der schrullige CIA-Agent John O’Neill, hatten einen solchen massiven Terrorangriff vorausgesagt. Auch die Finanzkrise 2008 war alles anderes als eine Erscheinung aus heiterem Himmel. Ökonomen hatten jahrelang vor der Immobilien- Blasenbildung und mehrfach geschichteten Risikopapieren gewarnt. Und auch vor der Verschuldung der europäischen Staaten wurde seit langem gewarnt.

Krisen wie die Eurokrise sind keine monokausalen Ereignisse, die wie ein Blitz vom Himmel fahren. Kleine Krisenherde können sich in bestimmten historischen Situationen gegenseitig überlagern und aufschaukeln. Die Eurokrise ist nichts anderes als eine „gehäufte Koinzidenz”. Sie setzt sich aus folgenden Faktoren zusammen:

  • Geschwächte Banken, die nach der Krise 2008 massenhaft Staatsanleihen kauften, die als bombensichere Papiere galten.
  • Hasardeurartige Spekulanten, die um ihren Job fürchteten, und nach Schwachstellen im internationalen Währungssystem fahndeten.
  • Ein oder vielleicht mehrere europäische Länder, die sich in den Währungsverbund geschmuggelt hatten, ohne ihre fiskalischen und strukturellen Hausaufgaben gemacht zu haben.
  • Falsche Rückkoppelungs-Systeme in den Europäischen Verträgen.
  • Die Erkenntnis, dass die Zeiten des langfristigen Wirtschaftswachstums in Europa wahrscheinlich vorbei sind, was über Nacht zu einer anderen Bewertung von Schulden führte (Kredite sind immer dann sicher, wenn die Schuldner solides Wachstum garantieren können).
  • Eine Medienlandschaft, die Krisen geradezu FRISST und sich daran mästet, Ängste am laufenden Band verstärkt und produziert.

Besonders der letzte Faktor wird oft unterschätzt – dabei gibt er dem Geschehen erst seine dramatische Dynamik. Angst spielt in einer Wirtschaftskrise eine Schlüsselrolle. Im Pingpong der Panik werden die Märkte in eine bestimmte Richtung getrieben. Hysterie ist der Brandbeschleuniger, der realwirtschaftliche Probleme unbeherrschbar machen kann.

Warum Europa scheitern muss, um weiter zu kommen

Ein klassisches Fallbeispiel der Spieltheorie trägt den Namen „The Tragedy of the Commons” – die Tragödie der Allmende (Mathematisch am besten dargestellt in: Peter Mersch, Evolution, Zivilisation und Verschwendung – Über den Ursprung von Allem; Books on Demand, Norderstadt. S. 352 & 391). Im 15. Jahrhundert begannen viele Dörfer und Gemeinden Europas, ein größeres Stück Land als Gemeingut auszuweisen, die so genannte Allmende. Auf diesem Land durften Schäfer und Tierhalter der Umgebung kostenlos ihre Schafe oder Rinder grasen lassen – zum Wohle aller. Doch fast immer mutierte der „Commons”, der gemeinschaftliche Grund, innerhalb weniger Jahre zur Wüste, durch Überweidung praktisch ohne Nutzen. Nach demselben Prinzip scheitern WGs am nichtgemachten Abwasch, Ehen an ungedeckten Ansprüchen aneinander, und Demokratien an überzogenem Lobbyismus.

In seinem Essay „Tragedy of the Commons”, 1968 in der Zeitschrift „Science” veröffentlicht, beschreibt der Biologe Garrett Hardin den Mechanismus dieses Gemeinschafts-Versagens (zitiert nach Peter Barnes, Capitalism 3.0, A guide to reclaiming the Commons; S. 7, Orginal: www.constitution.org):
„Der örtliche Schäfer konstatiert, dass die einzig sinnvolle Weise, seinen Wohlstand zu mehren, das Hinzufügen eines Schafes zu seiner Herde ist. Aber alle anderen Schäfer kommen zu demselben Schluss. Das ist die Tragödie: Jeder ist in einem System eingeschlossen, das ihn nötigt, seine Herde zu erweitern – in einer begrenzten Umwelt führt diese Logik zum tragischen Ruin.”

Kommt uns das nicht allzu bekannt vor? Griechenland und die Griechen haben schlichtweg entlang der Anreizsysteme gehandelt, die die europäischen Verträge ihnen nahelegten. Mache weiter wie immer, aber lebe besser! Der Euro bedeutete billige Zinsen, und so taten Staatschulden nicht weh. Ein Kaffee kostete mit dem Euro plötzlich doppelt so viel, ohne dass sich die Dienstleitung verbessert hätte. Auch das kleine Bestechungsgeld wurde ein wenig teurer, was die Wirtschaft im wahrsten Wortsinn schmierte. Steuern zahlen? Wozu das denn? Alle handelten im logischen Eigeninteresse einer langbewährten Ökonomie-Form, in der sich alle Teilnehmer kunstvoll vor den Kosten drückten.

Diesen Fehlmechanismus zu erkennen, ist das eine. Daraus Anti-Griechen-Populismus zu schmieden, ist einfach nur selbstgerecht und stillos. Deutsche würden auf der „griechischen Wiese” genauso handeln. Der deutsche Wohlstand nach dem Krieg entstand durch einen gigantischen Subventionismus – den amerikanischen Marshall-Plan. Es sind nicht selten die besten Steuerhinterzieher, die besonders laut gegen die Griechen pöbeln.

Wie ließen sich die „Überweidungen” des europäischen Gemeineigentums – der Stabilität und Seriosität des Euroraums – generell vermeiden? Bei der Stabilität von sozioökonomischen Systemen kommt es entscheidend auf die Feedback-Schleifen an. Der Schlüssel ist die RÜCKKOPPELUNG. Wie aber schafft man bessere Rückkoppelungs-Schleifen, um ein ähnliches Desaster in Zukunft zu verhindern?.

In Uganda gibt es eine lange Tradition von Schulspenden, teilweise aus dem Inland, teilweise aus dem Ausland. Doch rund 80 Prozent der Gelder verschwanden früher in den Taschen dubioser Zwischenspender, oder gleich direkt in denen der Lehrer oder Direktoren. Die kenianische Regierung setzte vor einigen Jahren das Dekret durch, dass die Namen und Fotos der Spender für die jeweilige Schule am Eingang an einem schwarzen Brett veröffentlicht werden müssen. Zusätzlich wurden Listen der Spender in zwei Zeitungen veröffentlicht – die größeren Spenden mit Fotos der Spender. Seitdem kommen über 75 Prozent aller Spenden tatsächlich an.
(Adapt, S. 142, siehe auch die Arbeit von Jakob Svennsson und Ritva Reinikka: LOCAL CAPTURE: EVIDENCE FROM A CENTRAL GOVERNMENT TRANSFER PROGRAM IN UGANDA, Quarterly Journal of Economics, www.people.su.se)

Eine ähnliche Wirkung könnte die Entscheidung des griechischen Finanzministers Venizelos haben, die Namen von 15.000 Steuerhinterziehern zu veröffentlichen. Sie hätten ein „nationales Verbrechen“ verübt. Öffentlichkeit ist ein wesentlicher Faktor von funktionierenden Anreiz-Systemen.

Kluge Feedback-Schleifen führen dazu, dass sich der Eigennutz mit dem Gemeinwohl synchronisieren kann. Die Reformen, die in der EU derzeit auf den Weg gebracht werden, gehen in diese Richtung. Wenn ein Staat, der sich mehr als 80 Prozent seines BSP verschuldet, ohne Wenn und Aber seine Haushaltshoheit verliert und einem Kommissar unterstellt wird, tendiert der Anreiz für unverantwortliches Verhalten gleich Null. Klare Regeln, klare Signale (siehe dazu auch den Text von Christian Rieck).

Das Geheimnis der Emergenz

Wie robust – oder besser: RESILIENT – sind soziale, ökonomische, politische Systeme? Können sie sich nach Krisen wieder-erfinden? Oder sind sie, wenn sie einmal auf die schiefe Bahn geraten, zum Untergang verdammt?

In der Systemforschung unterscheiden wir zwischen verschiedenen System-Arten. In kausal-linearen Systemen sind Ursachen und Wirkungen klar definiert. Etwa in der Himmelsmechanik: Dort lassen sich zukünftige Zustände leicht und präzise voraussagen. In komplexen Systemen ist die Prognose schwieriger. Nahezu unmöglich wird die Vorhersage in fraktalen Systemen – dort entstehen durch den „Schmetterlingseffekt” ständig chaotische Turbulenzen. Beim Wetter, oder auch bei den Börsenkursen, sind langfristige Vorhersagen so gut wie unmöglich.

Es gibt jedoch noch eine vierte, besonders spannende Kategorie: EMERGENTE Systeme. Laut Wikipedia bedeutet Emergenz „die spontane Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen auf der Makroebene eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente”. Die Frage lautet nun: Ist „Europa“ ein emergentes System?

Um eine Antwort zu finden, müssen wir verstehen, wie Systeme in und durch Krisen höhere Komplexitätsstufen erreichen. Bei diesem Prozess gilt das „Gesetz der erforderlichen Variabilität” (Law of Requisite Variety – der Begriff stammt von John Casti).

Der menschliche Körper ist ein Beispiel dafür, wie im Verlauf der Evolution die Komplexität des Organismus immer weiter zugenommen hat. Organe, Blutgefäße, Nervensysteme, Immunsysteme haben sich ständig ausdifferenziert. Analog dazu musste sich ein immer komplexeres Steuerungsorgan entwickeln: Das Gehirn. Das Gehirn ist einerseits „robust” genug, um alle Sub-Routinen des Körpers zu steuern. Es stellt aber auch genügend Variablen und Freiheitsgrade für Verhaltensänderungen und Lernprozesse zur Verfügung.

Am Beispiel des Atomunglücks von Fukushima lässt sich die „Komplexitätsdissonanz” (complexity mismatch) verdeutlichen: Das regelnde System muss mindestens so komplex sein wie das „geregelte”. Nicht nur die technischen Systeme der Reaktoren waren unterkomplex gegenüber einem Erdbeben der Stärke 9 und einem 8-Meter-Tsunami. Auch die Management-Systeme stellten sich als überfordert heraus. In der Organisationskultur der Betreiberfirma TEPCO herrschte das „Gesichtswahrungs-Prinzip”. Der Top-Manager von TEPCO verabschiedete sich gleich nach dem Unglück mit einem Nervenzusammenbruch in eine Klinik. Es dauerte Tage, wenn nicht Wochen, bis eine handlungsfähige Aktionshierarchie entstand. Deshalb kam es nicht nur zu einem grossen Unfall, sondern gleich zum GRÖSSTMÖGLICHEN Unfall.

Die Entwicklung Europas in den letzten Jahrzehnten lässt sich mit solchen Steuerungs-Dissonanzen vergleichen. Der steigenden Komplexität des „Organismus Europa” stand keine adäquate „Steuer-Software” gegenüber. Diese müssen wir jetzt erfinden.

Auf dem Weg nach Neuropa

Von den „Vereinigten Staaten von Europa” sprach schon Victor Hugo im Jahre 1849. Die Sozialdemokratie übernahm den Begriff in den 20-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Revolutionen und militärischer Nationalismus den Kontinent zersplitterten. Jetzt spukt der Begriff wieder durch die Köpfe. Europa, so heißt es, braucht neue Einheit. Einen neuen Schub. Eine neue ERZÄHLUNG.

Aber kann man die Geschichte von Kulturen, von Ländern, von Regionen oder gar Kontinenten, nach Belieben neu erzählen? Sind solche „Erzählungen” nicht immer das Produkt, nicht der Beginn von kollektiven Erfahrungen?

Gerade Europas „Nachteil”, seine Vielfalt, seine Nicht-Einheit im Verwaltungssinne, ist gleichzeitig sein Vorteil. Gerade bei krisenhaften Wandlungsprozessen ist VARIANZ von entscheidender Bedeutung (siehe „Best Practise Europa”). John Stuart Mill formulierte:
„Komplexität entsteht nicht durch die Anzahl der Gesetze…. sondern durch die außergewöhnliche Anzahl und Variabilität der Elemente – der Agenten, die, den Gesetzen verpflichtet, zugunsten des erwünschten Effekts kooperieren.” (Philipp Ball, Critical Mass, S. 568)

Anstatt und in europäischem Selbstzweifel zu ergehen, sollten wir verstehen: Europa ist work in progress, und Krisen beschleunigen diese evolutionäre Arbeit. Europa ist ein Kulturmodell, ein Organisationsmodell, dass sich fundamental vom amerikanischen UND asiatischen Weg unterscheidet. Während Amerika an seinen verdrängten inneren Spaltungen, seinen kollektiven Hysterien zu zerbrechen droht, bleibt China ein an den Rändern zerfransendes Imperium. Das Experiment „Neues Europa” bedeutet einen Gegenentwurf zu beiden Extremen. Es bedeutet die Suche nach einem neuen Balance-System. Zwischen Staat und Markt. Bürger und Wirtschaft. Zentrum und Peripherie. Lokalität und Globalität, Technik und Kultur. Alltag und Kreativität. Bindung und Freiheit. Individualität und Vernetzung.

Wenn es eine europäische Idee gibt, dann ist es die Idee des Zweifels, des Ausgleichs, der Selbstbeschränkung und Moderation. Carl Popper formulierte diese eigentliche europäische Gründungsthese mitten im Weltkrieg: „Niemand ist gegen Irrtümer gefeit; das Große ist, aus ihnen zu lernen.”

Immerhin 17 Prozent der Deutschen fühlen sich in erster Linie als Europäer, wie eine Umfrage von EMNID herausfand. Aber mehr als 50 Prozent sehen sich primär als Deutsche. Muss das, in Zukunft, ein Widerspruch sein? Oder könnte hier eine neue Mehrschichtigkeit entstehen, bei der es kein Widerspruch mehr ist, Bayer zu sein UND Europäer, Sylter UND Kontinentalist? Europas Bürger können gute GLOKALISTEN werden, wenn sie die dumme Idee hinter sich lassen, dass ein einziges Kultur- und Wirtschaftsmodell „richtig” oder „falsch” sein muss.

And the Winner is…

Was gegen das Szenario „Euro-Split” spricht – den Zerfall Europas in streitende Blöcke und nationale Regressionen – ist nicht zuletzt die historische Erfahrung. Zudem sind die Umweltparameter heute radikal andere. Was hat sich seit den Katastrophen-Zeiten Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts geändert? Damals waren nur die europäischen Spieler selbst auf dem Spielfeld. Man schlug sich um Kolonien. Macht war nur GEGEN die anderen durchsetzbar, in einem Win-Lose-Spiel. Heute ist Europa nur noch ein Teil einer gewaltigen dynamischen Weltentwicklung. Das unterscheidet die Krise 2011 von den Krisen 1914, 1928, 1933. Damals war der europäischen „Innendruck” gewaltig. Heute ist der Kontinent Teil eines gewaltigen globalen Wirtschaftsgeschehens, mit ungeheuren Wachstumskräften und Dynamiken.

Ein Rückzug auf den „harten Kern” der Euroländer („Eurocore”), wie es etwa Olaf Henkel propagiert, wäre eine scheinbar logische Reaktion auf die Tatsache unterschiedlicher soziokultureller Systeme. Die europäischen Zentristen argumentieren mit der Unfähigkeit des Südens, eine effektive technologische Wirtschaftskultur zu errichten. Doch ein Rückzug Europas auf den nördlichen Kern würde den Kontinent schlicht zerreißen. Einer harten Währung stünde eine weiche gegenüber – die besten Grundlagen für einen Wirtschaftskrieg. Man bräuchte schließlich eine Mauer mit Stacheldraht in Ost-West-Richtung. Einen neuen Limes von Norden. Damit driftete die Entwicklung automatisch und Richtung auf das Zerfalls-Szenario.

Das Szenario „Eurobonds plus” ist (wie auch von den Teilnehmern unserer Abstimmung angenommen) das mittelfristig wahrscheinlichste. Wenn ein großer Schirm, der gegen die aggressiven globalen Finanzmärkte dämpfende Wirkung hat, mit klaren Bedingungen nationalen Verhaltens einhergeht, wären beide Elemente vereinigt: Kooperation UND Differenz, Transfers UND Rückkoppelungen. Das „Gesetz der erforderlichen Variabilität” wäre erfüllt.

Natürlich ist das nicht das Ende der Entwicklung. Es werden weitere Krisen folgen, Konfrontationen in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Diese Herausforderungen werden es am Ende sein, die den Kontinent weiter zusammenschmieden. Ob man das dann, im weiteren Schritt, „Vereinigte Staaten” oder „Konföderation” oder „Neuropa” nennt, ist eigentlich egal. Europa bleibt ein unruhiger, „nervöser” Kontinent, und gerade deshalb ist er so vital. Europa wird und bleibt ein Evolutionsfeld. Ein Brutkasten von Ideen und Vorschlägen, wie es sich in offenen Systemen, zwischen Freiheit und Solidarität, besser leben lässt.

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