Die Zukunft des Fleisches

Wir wissen nicht, wer das Fleisch aus der Retorte eigentlich essen soll. Aber es bietet uns einen Anlass, über unser inneres Verhältnis zur Welt nachzudenken.

Im Jahre 1932 wagte Winston Churchill, schon damals passionierter Fleischesser, eine Prognose: „In 50 Jahren werden wir der Absurdität entkommen, ein ganzes Tier zu züchten, wenn wir nur seine besten Teile wollen.” Mit 30 Jahren Verspätung ist es nun so weit. In London hat die Food-Trendforscherin Hanni Rützler den ersten „Retortenburger” gekostet. Ihr Urteil: schmeckt fast wie Rind! Sind wir der Zukunft wieder einen Riesenschritt näher gekommen?

Der Retorten-Burger trifft auf merkwürdige Paradoxien in Sachen Ernährung. Da ist einerseits der Authentic-Trend, nach dem man auch noch wissen soll, wie das Schwein hieß, das man vertilgt. Zur selben Zeit wächst die Zahl von Ovo- Multi- und Vegetariern deutlich.

Dann haben wir den Retro-Männer-Fleischkult, der seine eigenen Porno-Magazine hervorgebracht hat, mit obszön marmoriertem 800-Gramm-Steaks auf Glanzdruck-Doppelseiten und Grillstationen so teuer wie Ferraris. Im Durchschnitt geben die Deutschen trotzdem immer weniger für Lebensmittel aus. Gleichzeitig häufen sich Titelgeschichten in deutschen Illustrierten, in denen darüber geklagt wird, dass unser Essen aus Fabriken statt vom Bauernhof stammt.

Hat Retortenfleisch in dieser verwirrten Trend-Landschaft eine Marktlücke? Die Substanz aus dem Labor ist weder Fisch noch Fleisch noch Gemüse. Es ist nachgebautes Fleisch, und damit noch nicht einmal künstlich. Menschen aber haben „eingefleischte” Vorstellungen über die Wirklichkeit. Unbewusst suchen wir immer nach gewohnten Einordnungen.

So führt der sogenannte „Uncanny-Valley-Effekt” dazu, dass sich Menschen vor menschenähnlichen Robotern eher fürchten (außer in Japan). Die Sprachsoftware SIRI scheitert daran, dass wir schwer irritiert sind, wenn wir nicht ad personam kommunizieren. Und das Elektroauto wird immer nur mit dem alten Verbrenner-Autos verglichen („Was nicht mit 180 von München nach Flensburg fährt, kann kein Auto sein!”).

Millionen von Jahren sind unsere Vorfahren auf die Jagd gezogen, meistens die Männer, und der Jagderfolg entschied über das Überleben der Sippe. In unserer archaischen Wahrnehmung hat Fleisch deshalb viel mehr mit Blut und Töten, aber auch mit Gemeinschaftsgefühlen zu tun, als wir glauben. Stellen wir uns also vor, dass im Kühlregal in zwanzig Jahren in der Sparte „Frisch aus dem Labor” dreizehn verschiedene Geschmacksrichtungen angeboten werden, von „Super Angus” bis „Fat Happy Pig”.

Wer wird das kaufen? Vegetarier greifen zum Gemüse. Wohlhabende gehen ins nächste blutige Fleischgeschäft, selbst wenn man dort die Ware nur noch unter dem Tisch bekommt. Kern-Zielgruppen wären also Planetenretter oder fleischliebende Tierfreunde. Doch diese Käufergruppen sind Fiktion. Nach allen Erfahrungen sind wir in Sachen Essen, Konsumieren und Sex grundbigott. Bleiben die Armen zum Weltretten.

Wenn Retortenfleisch um die Hälfte billiger wäre als Realfleisch, würde es zum neuen Unterschichten-Produkt – und zum nächsten Skandal. Merke: Eine Innovation ist noch lange kein Markt. Und manche Innovationen sind eher Anlass, über unser inneres Verhältnis zur Welt nachzudenken, als Botschafter der Zukunft. In dieser Funktion sind sie allerdings kostbar.

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