Wie kommt es nur, dass sich alle so furchtbar über den NSA-Skandal aufregen, aber andere Mega-Skandale weitgehend ignorieren? Eine Spekulation.
Seit drei Wochen geht es mir wie dem Jungen in Grimms Märchen, der auszog, das Fürchten zu lernen. Ich mühe mich redlich. Aber ich finde das ganze NSA-Knochengepolter einfach nicht gruselig. Ich habe Orwells alten Roman gelesen, nachts, bei Kerzenlicht. Habe versucht, mir auszumalen, wie Männer in Trenchcoats mich im Morgengrauen abholen und keinen Schlüssel für mein elektronisches Schloss brauchen. Dass ich beim Eingeben meiner Postbanknummer den Satz „Sie existieren nicht!“ lesen muss. Dass ich, weil ich „Dschihad“ in Google eingegeben habe, in einem orangen Overall in einen Käfig gesteckt werde, und mit niemandem reden kann außer dem Gefängnispfarrer.
Wie kommt es, dass gewisse Themen zu Mega-Skandalen avancieren, während andere Missstände völlig ignoriert werden? Warum erzeugt die nicht gerade neue Erkenntnis, dass Geheimdienste durch digitale Mustererkennung Attentate zu verhindern suchen, Millionen von Kommentaren und wochenlange Talkshows, in denen in bleischwerer Hysterie das „Ende der Demokratie“ an die Wand gemalt, ja geradezu heraufbeschworen wird. Mehr als über reale Gefahren geben Skandale Auskunft über die innere Psychologie, die Denkweise einer Gesellschaft.
Erstens befriedigt dieser Skandal unsere Sehnsucht nach Helden. In der postheroischen Welt sehnen wir uns nach Lichtgestalten; da kommen uns die Assanges und Snowdens gerade recht.
Zweitens trifft das Muster des NSA-Skandals haargenau einen Mythos, der fast so etwas wie ein Gründungsmythos der Bundesrepublik ist. Das Märchen des „Vater-Verrats“. Dank dieser Sinngebung konnten sich die 68er-Generation und große Teile des Bürgertums auf ein gemeinsames Feindbild einigen. Amerika ist das Übel der Welt. In diese altbewährte Kerbe haut zum Beispiel unentwegt der junge Augstein, der sich in seinen Kommentaren aus der Spiegel-Zentrale gar nicht mehr einkriegen kann, dass die Verbündeten jeden Monat 500 Millionen Datenverbindungen in Deutschland abgreifen, und Angela Merkel nur ein paar fromme Worte spricht.
Drittens aber ist hier ein psychologischer Effekt am Werk, den man Forer-Effekt oder auch „Eitelkeits-Bias“ nennt. Beim Horoskop glauben wir, dass nur WIR gemeint sein können – obwohl der Text nur schwammig formuliert ist. Die Phantasie, dass es ein riesiger Apparat auf UNSERE persönlichen Daten abgesehen hat, schmeichelt unserem Selbstwertgefühl. Wer überwacht wird, muss ungeheuer wichtig sein! Wir halluzinieren eine Gefahr, die uns aufwertet.
Irgendwann gruselt es mich dann doch. Bei der hundertsten Talkshow über den Datenuntergang schlafe ich ein. Ich träume, dass in geheimen Tunnelsystemen unter Fernsehsendezentralen und Zeitungsredaktionen Männer mit Lippen wie Schirrmacher und Frauen, die Anne Will ähneln, mit einer Maschine riesige Skandal-Blasen produzieren. Diese Blasen erzeugen ungeheure Mengen von Papier, Sendezeit, Empörungen und Erregungen. Eine Weltverschwörung des Aufmerksamkeitskapitals, des wahren Kapitalismus unserer Tage! Sie soll uns davon abhalten, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: Dass in diesem Wahlkampf kein einziges reales Zukunfts-Thema existiert. Null. Nichts.