Als am 1. November 1755 die schöne Stadt Lissabon durch einen Tsunami und einen Grossbrand völlig zerstört wurde – mit einem Erdbeben von 8,7 auf der Richter-Skala, also den gleichen Amplituden wie jetzt in Japan – bekam die europäische Aufklärung ihren entscheidenden Schwung. Voltaire schrieb einen eigenen Essay über das Desaster, dem 90.000 Menschen zum Opfer fielen – fast die Hälfte der Stadtbevölkerung. In seinem Roman Candide oder der Optimismus nahm er den Furor der Elemente als Beleg für eine Welt, in der der Mensch der Urgewalt der Natur allein, aber in Würde gegenübersteht. Kein Gott straft oder prüft den Menschen, so wie er ihm im Ernstfall auch nicht hilft. Auch Kant und Lessing beteiligten sich an der Debatte, die ein neues, humanzentrisches und gleichzeitig melancholisches Denken hervorbrachte, das geradewegs an den feudalen und kirchlichen Mächten vorbei in die Moderne führte.
Katastrophen haben keinen „Sinn”, aber sie konstruieren Zukunft auf seltsame Weise. Sie vermögen menschliche Gesellschaften zu transformieren. Oft entstehen Zivilisationsschübe aus Trümmern, wie nicht zuletzt die deutsche Geschichte zeigt. Das ist verblüffend, denn psychologisch haben sie die gegenteilige Wirkung. Jeder, der schon einmal ein Erdbeben, einen Sturm, oder ein anderes gewaltiges Naturereignis von innen erlebt hat, weiss, wie traumatisierend die totale Ohnmacht auf die menschliche Psyche wirkt. Das Eingeständnis, rein gar nichts tun zu können, ist die vielleicht tiefste menschliche Kränkung. Aber erstaunlicherweise mobilisiert gerade diese Erfahrung – oder Möglichkeit – neue Energien.
Wenn Katastrophen das Netz der stützenden Zivilisation auseinandernehmen, werden wir auf einen humanen Kern gestoßen. In allen Kulturen neigen Menschen dann zu Handlungen heroischer Solidarität. Sie helfen sich spontan, so gut es geht, zeigen Empathie, und werden so gerade in ihrer Schwäche als „social animals” sichtbar. Dieser Effekt wirkt sogar in der Ferne, im Verhältnis zu weit entfernten Desastern. Als das letzte grosse Seebeben 2005 eine viel grössere Anzahl von Opfern in den ärmeren Ländern Indonesiens forderte, ging eine Hilfswelle um die Welt – ein Beispiel positiver Globalisierung. Im Angesicht schrecklichster Bedrängnis können wir zu mitfühlenden Kosmopoliten werden. Auch das x-fach-Desaster in Japan bringt die Menschen näher zusammen. Die „kulturell fremden” Japaner werden uns plötzlich auf eine fast rührende Weise nah. Sie sind wie wir, obwohl wir in ihnen bislang immer Fremdheit codierten.
Der amerikanische Zukunftsdenker Jeremy Rifkin sprach von einer „emphatischen Zivilisation der Zukunft”. Die Katastrophen sind der große Gleichmacher, der „Kommunist” unter den Umwelteinflüssen. Womöglich zeigt sich hier eine anthropologischen Konstante. Technik, Zivilisation, Kultur, sind letztendes aus der Ur-Katastrophenerfahrung entstanden, als Rebellion gegen die Entropie, die uns die Natur zumutet. Hier zeigt sich die Basis einer globalen Zivilgesellschaft, die das alte tribale Gesetz, nach dem wir nur denen helfen können und wollen, die zu den „unsrigen” zählen, überwindet. Ein Anti-Sarrazin-Effekt: Nicht Exklusion, Abwehr und Ausschluss der Schwachen, sondern Annahme der Gemeinsamkeit, die alle Menschen umfasst.
Wenn wie die vielen Apokalypse-Filme der letzten Zeit Revue passieren lassen, dann kreisen sie tatsächlich immer nur um das eine Thema: Das Menschliche, das durch seine Antipode, den Untergang, erst zum Vorschein kommt. An diesem Punkt verstummt das eitle Geschwätz in den Talkshows, in dem es immer nur um Feindbilder und Schuldzuweisung, um Eitelkeit und Opfersuche geht. An dem Punkt, an dem wir alle tief verwundbar sind, beginnt die wirkliche Zukunft.