Der seltsame Verfall des Abendlandes

Der Westen hat seine Strahlkraft verloren. Gut so, denn seine Entwicklung zur Schwäche ist eine notwendige Evolution.

Wer in der ISS, der Internationalen Raumstation, den Planeten umkreist – 14-mal innerhalb eines Tages, mit knapp acht Kilometer pro Sekunde – der sieht weder Ost noch West. Nur einige Relikte einer Zeit sind geblieben, in der sich zwei Blöcke, radikal verschiedene Werte-Systeme, politische Mega-Systeme gegenüberstanden. In Südostasien wird, wenn man die Nachtseite durchfliegt, plötzlich ein ganzes Land von einem Blackout verschluckt. Nordkorea, das dunkle Reich der Vergangenheit, liegt zwischen den urbanen Lichtermeeren Chinas, Japans und Nordkorea im Dunklen. Nur Pjöngjang, die Hauptstadt, ist als gelblicher Schein bis in den Orbit sichtbar.

„Der Westen“ war immer schon eine Imagination

Die Welt formt sich neu. Alte Ordnungen vermengen sich mit neuen, längst vergessen geglaubte Phänomene – fanatischer Nationalismus etwa – springen wie Zombies aus dem Grab. Putins leuchtendes Reich der Fossilenergien ist gleichzeitig ein Anachronismus und ein Zukunftsprojekt. Das Erstarken von „gewählten Diktatoren“ hat eine innere Logik die – rekursiv – auf die Geschichte des Westens verweist. Demokratie, Pluralität, Toleranz, so dämmert uns, steht eben nicht am Anfang einer Entwicklungsgeschichte. Sie ist das Resultat einer langen Historie von Konflikt, Erfahrung, Kampf und Scheitern. So wie auch „der Westen“ im 20. Jahrhundert unentwegt scheiterte, laufen heute die Schwellenländer durch immer neue Krisen und Konflikte.

Ihnen hochnäsig den westlichen Erfolg vorzuhalten, gerät gottlob langsam aus der Mode. „Der Westen“, das war immer schon eine Chimäre, eine paradoxe Konstruktion, eine idealistische Imagination. „Der Westen“ konstituierte sich ausgerechnet durch den verheerendsten Krieg der Neuzeit, den Zweiten Weltkrieg. Danach verdeckte die binäre Logik des Kalten Krieges, dass „Westen“ niemals einen monochromen Kulturraum benannte, wie man ihn den Römern oder den Maya oder den Mongolen oder den historischen Khmer unterstellen kann (selbst deren Kulturen waren in sich vielfältiger, als wir heute glauben). Auch der Begriff des „Abendlandes“, auf dessen unweigerlichen Zerfall sich der schwülstige Paranoiker Oswald Spengler berief, war immer eine Projektion, ein Mythos, auf dessen Bühne und in dessen Keller auch der Kolonialismus tobte, die grausame Ausplünderung ganzer Kontinente.

Der ungerechte Vorteil der Geschichte

Die neue Welt-Unordnung macht all diese Illusionen und Verklärungen heute auf paradoxe Weise sichtbar. Sie zeigt die Schwäche des Westens, aber sie weist auch in Richtung auf neue Wege des Verständnisses. Der bittere antiwestliche Zorn, den man heute in China und Russland und vielen anderen Schwellenländern immer noch verspürt, gilt dem ungerechten Vorteil der Geschichte, in dem der Westen sich historische Privilegien nahm und sich gleichzeitig Superiorität anmaßte.

Das Demokratie-Ideal endete meist dort, wo man mit einem Diktator kooperierte, der die eigenen Interessen vertrat. Als letztes großes Experiment scheiterte die „kriegerische Demokratieerzwingung“ in den Desastern von Irak, Afghanistan (teilweise) und, damit verbunden, Syrien. Seitdem lernt der Westen Demut, Kontrollverlust, Selbstzweifel. Das eröffnet neue Chancen für Brücken zwischen Ost und West, Nord und Süd. In Afrika zeichnen sich heute zum Beispiel neue Allianzen zur Beendigung von Bürgerkriegen ab.

Wir stehen wieder an einem Punkt wie 1914

Wenn wir „westlich“ als die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zum kreativen Zweifel, zur ewigen Revision, zur Weiterentwicklung von Komplexität im Denken und Handeln verstehen, dann ist diese Entwicklung zur Schwäche eine notwendige Evolution. „Je mehr eine Kultur begreift, dass ihr aktuelles Weltbild eine Fiktion ist, desto höher ihr wissenschaftliches Niveau“, schrieb Albert Einstein. In der kommenden Netzwerk-Welt haben wir alle die gleichen Probleme und Möglichkeiten: intelligentere Städte bauen, Energie auf neue Weise produzieren, Mobilität organisieren, bessere und effektivere Kooperationen finden.

Wenn wir „das Westliche“ als jenes Abenteuer der Humanität verstehen, in dem Kunst, Kultur, Technologie, Wissen und Politik in ein neues, ganzheitliches Verhältnis zueinander treten, dann ist die Geschichte nicht, wie Francis Fukuyama es einst behauptete, an ihrem Ende, sondern an ihrem Anfang. Wir stehen tatsächlich wieder an einem Punkt wie 1914, als sich das „Zukunftsschicksal der Nationen“ entschied. Nur: Geschichte wiederholt sich nicht, „aber sie neigt dazu, sich zu reimen“, wie Mark Twain es formulierte. Am besten sieht man diese neue Welt, in der der Westen sich endlich in seinem eigenen Universalismus auflöst, aus der erhabenen Umlaufbahn.

TheEuropean.eu, 18. April 2014

Schreibe einen Kommentar