Aus Häme wird beim „Spiegel” immer häufiger Hysterie. Aus kritischem Bewusstsein unpolitische Wurstigkeit.
Wie funktioniert eigentlich Demokratie? Indem man den Politikern in den Hintern tritt. Sie mit gnadenlosen Recherchen in die Enge treibt. Ihnen die Maske vom Gesicht reißt. Bis sie aufgeben und zurücktreten. Journalismus, das ist ein ständiger Schützengraben-Kampf gegen „die Mächtigen“.
So haben wir es seit den 70er-Jahren gelernt, und so hat der charismatische Gründer des Spiegel, Rudolf Augstein, die Rolle seines Blattes definiert: „Sturmgeschütz der Demokratie“. Deshalb scheint es nur natürlich, wenn der Spiegel in seiner neuen Werbekampagne textet: „Meist gelesen, meist gefürchtet, meist zitiert“. Und ein etwas verschwommenes Bild einer Redaktionskonferenz zeigt: „DIE KONFERENZ, VOR DER POLITIKER ZITTERN!!“
Spürt eigentlich irgendjemand, wie falsch und präpotent diese Jung-von-Matt-Parolen heute wirken? Repräsentieren Politiker heute eigentlich noch „Macht“? Sollten wir nicht eher froh sein, dass es überhaupt noch irgendjemand gibt, der diesen Sch…job „Politiker“ noch macht – zu mäßigen Gehältern und einer hohen Chance, im hohen Bogen rauszufliegen, wenn man auch nur mal ins falsche Auto steigt? Egal, was man sagt, es wird von tausend superschlauen Kommentatoren zerlegt, verhackstückt, zu Klischees verarbeitet. Egal, welches Thema man zu diskutieren versucht – der allgegenwärtige Shitstorm-Populismus wartet nur darauf, seine Verachtungs- und Nörgelmaschine anzuwerfen.
Der Spiegel hat sich immer auch als Gegenregierung gefühlt, als Besserwisserkabinett. Sein bisweilen arroganter, manchmal auch zynischer Ton hat nicht wenig dazu beigetragen, dass politische Debatten heute eher reflexhaften Erregungsinszenierungen ähneln. Die Skandalisierung und Personalisierung von Politik war nur die Vorstufe einer Politikverachtung, die in rechter und linker Variante durchaus die Gesellschaft spalten kann. Aus Häme wird immer häufiger Hysterie. Aus kritischem Bewußtsein unpolitische Wurstigkeit. In seiner Auflagenpanik ist der Spiegel längst zum Teil dieses strukturellen Populismus geworden. Mobbing, Burn-out – solche ideologisierten Modekrankheiten bringen eben Auflage. Griechen raus?!? Der Spiegel darf Sarrazin-Parolen heute als Titelbild bringen, ohne dass das weiter auffiele.
Die Idee, dass Medien grundlegend gut und machtlos und Politiker böse sind, ist eine gefährlich eitle Vorstellung von Medienmachern. In der Nachkriegszeit, als Politik tatsächlich noch ein hermetisches System älterer Herren und die ganze Gesellschaft von autoritativem Geist durchzogen war, mochte das noch stimmen. Heute liegt das Problem der Demokratie womöglich in einer ganz anderen Richtung.
Unser Problem sind heute nicht mehr „böse Politiker“, sondern eine breite Erosion des gesellschaftlichen Diskurses in eine allgemeine Anne-Will-Plasberg-Schreierei, bei der es nur noch darum geht, im Namen der Einschaltquote jeden komplexen Gedanken zu einem Billig-Klischee zu reduzieren. Demokratie heißt in Zukunft, wieder zuhören lernen, das Gegenüber anzuerkennen, klügere, konstruktivere Fragen zu stellen. Die wirklich knappen Ressourcen ind Partizipation und Verantwortung, nicht mehr Kritik und Dagegensein. Wer das, als Leitmedium und Institution, nicht versteht, wird immer nur kurzfristig Auflage schinden, aber dabei weiter an Deutungsmacht verlieren.