Eigentlich ist es ein ziemlich blödes Gefühl, Recht gehabt zu haben. Meist führt es geradewegs in jene Selbstgerechtigkeit, mit der Szenen, Lager, Welt-Anschauungen ihre Mythen pflegen. Aber das viel zu späte Outing der Missbrauchsopfer wirft noch einmal einen Schlagschatten auf die Konflikte, die – scheinbar – lange hinter uns liegen. Auf das verklemmte, mit verdeckter Gewalt behauptete Kulturprinzip, gegen das vor Jahrzehnten eine halbe Generation – mich inbegriffen – rebellierte. Mit Leib und Seele, aber nicht immer mit erleuchteten Methoden und Denkweisen. Aber wir haben es, sorry, immer gewusst: Hinter hehren Sprüchen und moralischen Zeigefingern verbirgt sich regelmäßig Gewalt und Unterdrückung.
Es ist nur wenige Jahre her, dass in allen Talkshows unisono der Trend zur „Wiederkehr der Religion” besungen wurde. Das Gegenteil ist richtig: Wir befinden uns mitten in einer neuen Welle der Säkularisierung. Immer mehr Menschen suchen nach Sinn-Zusammenhängen jenseits der alten, großen Gewissheiten. Weil sie immer wieder die Erfahrung der Kosten der absoluten Wahrheiten machen.
Dieser Erosionsprozess betrifft auch die Politik. Eine große Ent-Ideologisierung ist im Gange. Das selbstgerechte Gehabe mancher FDPler erweist sich plötzlich als ebenso naiv-dogmatisch wie die Linkshuberei eines Lafontaine. Das „natürliche bürgerliche Bündnis” enthüllt sich als genau so von innen zerrissen wie die achso heilen Familienverhältnisse, die man uns „damals” als Vorbild unter die die Nase rieb. Die Grünen mit ihrem ewigen Hang zur TAZ-Szene-Spiessbürgerei erscheinen bisweilen als die letzten Konservativen. Und aus dem konservativen Lager tönt es wie aus einem Rosa-Luxemburg-Verein (Heiner Geissler sei mit uns!)
Auf interessante Weise geraten die Verhältnisse ins Rutschen. Management-Kongresse wimmeln plötzlich von Nachhaltigkeits-Vokabeln. Ganze Industriebranchen ergrünen im Handumdrehen. Banken krempeln sich von innen nach aussen und verändern ihre Spielregeln (es gibt mehr Beispiele dafür, als man denkt!). Politiker gestehen vor laufender Kamera ein, dass sie auch nicht alles genau wissen…
Irgendwie erinnert das an die golden-gefährlichen 68er-Zeiten, als die Verhältnisse aufbrachen und die Horizonte freier wurden. Woran es uns mangelt, sind jedoch Zukunfts-Bilder jenseits der alten Lager- und Milieurhetorik. Eine kreativ-pragmatische, eine emanzipative Politik könnte endlich gelassen den alten Polarisierungs-Unsinn hinter sich lassen. Das ständige paranoide Ausspielen von Staat versus Wirtschaft zum Beispiel: Warum, zum Teufel, sind wir nicht in der Lage, in SYNTHESEN und ERGÄNZUNGEN zu denken? Eine kreative Wirtschaft gehört zu einem erfinderischen Staat. Eine neue Sozial- und Bildungspolitik ist ohne aktive Bürgergesellschaft nicht denkbar. Fördern und Fordern gehört natürlich zusammen! Es gibt jede Menge Beispiele, wo das funktioniert! Wandel ist nur in Kooperationen und Netzwerken möglich, nicht in Klientel-Logik.
Noch klappern die Klischeemaschinen der Medien und versuchen, den neuen Geist in die alten ideologischen Flaschen zurückzustopfen. Im Maischberger / Plasberg / Anne-Will-Zirkus wird jeder konstruktive Gedanke verlässlich zu Staub zermahlen. Aber immer mehr Menschen verstehen, dass das alte Lager-Denken für die moderne Gesellschaft einfach unterkomplex ist. Längst hat sich eine „Partei der Zukunft” gebildet. In ihr vernetzen sich Leute, die nicht mehr gewillt sind, ihre Zeit mit Jammerei und Prinzipienhuberei zu verbringen. Es sind Unternehmer, Lebens-Künstler, Lehrer, ja, auch Politiker. Die KREATIVE KLASSE eben.
Wohl dem, der in bewegten Zeiten wohnt, lautet ein chinesisches Sprichwort. Als alter, undogmatischer Rebell kann man nur seine Freude daran haben, wie die Krusten des alten Denkens aufbrechen. Wussten wir es nicht immer schon? Unter dem Pflaster liegt der Strand!