Wirbelsturm der Individualisierung

Wer die Zukunft der Liebe verstehen will, muss sich anschauen, wie Frauen in großen Städten heute leben. Sie wollen Freiheit, beruflichen Erfolg und
sehnen sich nach Romantik. Immer im Nacken: die Angst, etwas zu verpassen.

Das war’s. Sie hat sich entschieden. Kein Ärger mehr mit Männern. Keine Dates mehr, die nur mithilfe von Matching-Algorithmen und Apps zustande kommen. Nicole, 37, ist Geschäftsführerin einer PR-Firma in Berlin. Ein paar Jahre war sie die eine Hälfte eines SDC (Semi-Detached Couple), Teil eines halbgebundenen Paares. Und das lag auch an ihr, denn eigentlich ist in ihrem Leben zu viel los, um sich wirklich auf jemanden einzulassen. Jetzt ist Nicole wieder Single, erfolgreich im Job, selbstbewusst – und an der Grenze zur Depression.

Doch das hält ihr Therapeut nicht für ihr Kernproblem. Er beobachtet an ihr etwas, was er heute oft sieht: FOMO – Fear Of Missing Out (das „Angst-etwas-zu-verpassen-Syndrom“). Alles mitnehmen, sich selbst verwirklichen. In der Liebe und im Leben. Und das oberste Gebot unserer Zeit erfüllen: individuell sein – am besten bei allem.

Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann beschreibt die Situation vieler unabhängiger Frauen heute so: „Sie stecken im Auge eines Individualisierungs-Wirbelsturms.“ Ohne in ihrem tiefsten Inneren wirklich dort sein zu wollen. Denn die meisten spürten durchaus ein Bedürfnis danach anzukommen.

Nicoles Therapeut hat ihr gerade eine Sozialkur verschrieben. Sie soll sich um ihre Freundschaften kümmern. Zeit mit Menschen verbringen, mit denen sie ungezwungen ausgehen, lachen, Nähe erleben kann. Ohne den Stress, nach „Mr. Right“ oder „Mr. Right for one night“ zu suchen.

Die britische Soziologin Leslie Bell sieht Frauen heute in der paradoxen Situation, frei zu sein – gerade auch sexuell –, aber Sex und Beziehungen häufig als unbefriedigend zu erleben. Durch die Möglichkeiten der Freiheit empfinden heute viele unbewusst eine Pflicht, sie zu ergreifen. Und stoßen dabei oft an ihre Grenzen, weil sie nicht wissen, wohin mit ihrer Verletzlichkeit und ihrem Wunsch nach Verbindlichkeit.

Aus diesen Schwebezuständen hat sich ein neuer Trend entwickelt: „Autonomie in Begleitung“. Rund acht Prozent aller Frauen zwischen 20 und 50 sagen, sie seien in einer Liebesbeziehung, aber nicht Teil eine „Paares“. Andere Forschungsprojekte beobachten, dass die Grenzen der sexuellen Orientierung fließender werden: „Flexi-Sex“ heißt, dass zunehmend Frauen auch mit Frauen Intimität erleben, ohne sich als lesbisch zu empfinden. In Großbritannien stieg die Zahl von 1,8 Prozent auf 7,9 Prozent in den letzten 20 Jahren.

Andere Frauen entscheiden sich wie Nicole für eine Phase der Enthaltsamkeit. In Japan tun das bereits Millionen von Frauen, und die Regierung spricht besorgt von einer „Flucht vor menschlicher Intimität“. Ist Japan, als die vielleicht „futuristischste“ moderne Gesellschaft, wegweisend für die Zukunft der Liebe? „Turning Japanese“ heißt ein Hit der britischen Band Vapors. „Japanisch zu werden“, stand für die Sorge, sich in etwas zu verwandeln, was man so nie von sich erwartet hätte. Nicole stellt sich jetzt als Single erst mal der Angst, was zu verpassen. Vielleicht entdeckt sie die Freiheit, sich einzulassen.

Kolumne „Future Love”, Mai 2014, emotion

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