Ideologisierte Armut

Der Millennium-Armuts-Gipfel hat seine Pforten geschlossen, und das Urteil von Medien und Kommentatoren fiel (wie immer, wenn es um die großen Zukunftsthemen geht), recht einhellig aus. „Alles wird schlechter.“ „Außer Reden nichts gewesen.“ – „Leere Versprechungen.“ – „Recycling alter Phrasen.“ Die Geberländer, so die unterschwellige Vermutung in vielen Kommentaren, haben eigentlich gar kein Interesse „die schreienden globalen Ungerechtigkeiten zu beseitigen“. Schuld sind, wie gehabt, am Ende der Kapitalismus und „die Politik“.

Alle sind sich einig. Wirklich alle? Nein. Weit im Norden, in Stockholm, arbeitet seit vielen Jahren ein agiler, witziger, kreativer Professor an einem ehrgeizigen Projekt. Er will, dass wir einen anderen, neuen, nüchternen aber auch inspirierten Blick auf die Welt – und ihren Wandel – werfen.

Hans Rosling, ursprünglich Professor für internationale Gesundheit, hat sich zum Ziel gesetzt, die realen Trends in der Weltentwicklung – Armut, Wohlstand, Bildung, Gesundheit – auf eine Weise sichtbar zu machen, dass wir ihre inneren Zusammenhänge besser verstehen. In dynamischen Grafiken, die er auf einer Software-Plattform mit dem Namen www.gapminder.org zur Verfügung stellt, lässt sich jedes einzelne Land der Erde in seinem Entwicklungsweg verfolgen – über Jahrhunderte hinweg.

Rosling ist derzeit eine Größe innerhalb der „Dritten Kultur”, jenes kreativen Netzwerks jenseits von Politik und traditioneller Wissenschaft, in dem neues, vernetztes Wissen generiert wird. Bei TED, der Kult-Konferenz dieser Bewegung, wird er wie ein Superstar umjubelt. Rosling kann, vielleicht als Einziger, Hardcore-Themen wie Armut und Geburtenstatistik mit Humor und Hoffnung verbinden. Dabei schluckt er auch schon mal auf offener Bühne ein Schwert, um zu zeigen: „The impossible is possible.“ Elend, früher Tod, Unterentwicklung können überwunden werden. Beispiele aus aller Welt zeigen, wie das geht.

In 80 Prozent aller armen Länder der Erde hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Lage verbessert. Die Geburtenrate sinkt in den meisten Entwicklungsländern schnell und nachhaltig – auch in islamischen. Die Bildungspotenziale verbessern sich selbst in den ärmsten der armen Nationen. In „The Bangla Desh Miracle“ zeigt Rosling, wie ein bitterarmes Land die Geburtenrate so weit senken konnte, dass die Mechanismen sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung greifen. Immer gibt es auch Regionen, wo die Fortschritte ausbleiben. Weil Diktaturen Hunger nachgerade nach sich ziehen. Weil semi-tribale Kriege der größte Feind jedes Wandels sind. Ist daran immer und überall „der Kapitalismus” schuld?

Aus seinen dynamischen Statistiken versteht man die komplexen Zusammenhänge zwischen Armut, Institutionen, Unterstützung und Eigeninitiative. Warum kennt niemand Hans Rosling, aber jeder quatscht über einen Herrn mit Schnauzbart und windigen Thesen? Weil wir die Welt strategisch wahrnehmen. Es geht uns nicht darum zu verändern, sondern recht zu haben, unsere Weltbilder und Ideologien bestätigt zu bekommen. Aber die Welt ist viel komplexer. Sie ist ein offenes, lernendes System. Um das zu erkennen, brauchen wir dringend mehr begnadete Wahrheitssucher wie Hans Rosling.

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