Die Welt wieder entdecken

Fernsehen ist, wenn Markus Lanz moderiert oder der Tatort alle Grenzen von Logik und Grausamkeit überschreitet. Aber es gibt es dennoch, das Gute, Wahre und Schöne in den Medien.

„Die Zukunft ist da!” jubelte die Süddeutsche über die größte Unterhaltungselektronikmesse der Welt, die CES in Las Vegas. Geboten werden dort sinnfreie Gadgets wie hüpfende Roboter oder elektronische Uhren, mit denen Kinder ihren Teddybär fernüberwachen können. Der eigentliche Hit aber sind, wie jedes Jahr, gigantische Bildschirme, 4K, messerscharf, gebogen, und mit Giga-Glasfaser-Schnittstellen. Gibt’s demnächst zum Sonderpreis beim Mediamarkt.

Geht Ihnen das auch so? Sie sehen kaum noch fern, lesen Zeitungen sporadisch, mal nur den Sportteil, mal nur flüchtig digital (die Websites wirken wie der immergleiche Brei) und hören Radio nur noch beim Autofahren? Ihr Medienverhalten ähnelt nicht dem Ihres Vaters. Der las täglich die FAZ bis zu den Stellenanzeigen (auch mal die Bild), hörte am Sonntag um 11 Uhr das Haydn-Konzert und schaltete pünktlich um 20 Uhr die „Tagesschau” ein. Was, zum Teufel, machen die Medien mit der Wirklichkeit? Was ist wichtig? „Eine Sekunde – Warum Schumachers Unfall die Welt so berührt”. So machte diese Woche der Spiegel auf, mit einem mystisch-unscharfen Alpenfoto. Ein Renn-Rentner hat einen Ski-Unfall. Ein weltbewegendes Ereignis?

Für die Medienmaschine war dieser Jahreswechsel eine Katastrophe. Kein finales Naturdesaster. Kein explodierendes Atomkraftwerk, keine Weltwirtschaftskrise. Nur urbi et orbi, Sonderangebote und ein unbekanntes Flugobjekt über dem Bremer Flughafen. Was ist los in einer Welt, in der man immer weiß, wer die nächsten Bewohner des Dschungelcamps sind, auch wenn man es gar nicht wissen will?

Fernsehen ist, wenn Markus Lanz moderiert. Oder der „Tatort” alle Grenzen von Logik und Grausamkeit überschreitet. Information ist, wenn alle dasselbe schreiben, Journalismus ist, wo alle hinfahren. Nach Wildbad Kreuth, wohin 20 Kamerateams und 100 Journalisten reisten. Sie fragen das Gleiche wie jedes Jahr. Und meinen, dass Seehofer dies oder das nicht sagen sollte oder dürfte. Sie meinen, dass die Schulden auf die nächsten Generationen verschoben werden. Meinung ersetzt Information. Alle meinen immerzu. In gesteigerter Form nennt sich das shitstorm.

„Wir ertrinken in Information und hungern nach Wissen”, formulierte der Zukunftsforscher John Naisbit vor zehn Jahren. Genau in diesem Vakuum entstehen neue Freiheiten. Wo alle Deutungsmacht jenseits der Einschaltquote verloren ging, wird Interesse, Differenzierung und Leidenschaft wieder möglich. Man kann mit Arte Indigene im Amazonas in Echtzeit begleiten. Auf Youtube Features über lettische Philosophen schauen, ohne darüber in der Kneipe quatschen zu müssen. Man findet, wenn man sich aus dem Nullmedium verabschiedet und agiert wie ein geistiger Gourmet, durchaus kluge Essays und wahre Worte. Die guten Fernsehserien, die garantiert nicht im Fernsehen kommen, sind wie die Romane Dostojewskis: tief, schwer und wahr. Man schaut sie bis zum Morgengrauen, Erzählungen, in denen echte Menschen vorkommen. Langsamkeit. Die Welt.

Sollen sie doch alle in überdimensionale gekrümmte Bildschirme glotzen! Damit a Ruah is, wie man in Wildbad Kreuth sagt. Und wir die Welt wieder in Ruhe entdecken können. Kleine Prognose noch: Auch das Buchlesen kehrt mächtig zurück.

Berliner Zeitung, 08. Januar 2014

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