Die Krise als doppelte Ent-Täuschung

In seiner fragmentarischen Erzählung „Enttäuschung”(1) aus dem Jahre 1896 beschreibt Thomas Mann eine männliche Person, die sich von ihren eigenen Zukunftserwartungen betrogen fühlt. Einsam geht dieser Mann, eigentlich im besten Alter,  am Strand des Lido von Venedig spazieren, gestützt auf einen Stock, und räsoniert vor sich hin.

Als Kind überlebte er bravourös eine dramatische Feuersbrunst und rettete dabei noch Menschen. Aber sie schien ihm im Rückblick seltsam banal, „wie ein fernes Streichholzlicht auf nassem Holz”.

Eine heftige Liebe in seiner Jugend, die nicht erwidert wurde, hinterließ eine gewaltige Enttäuschung. Aber keineswegs  durch die Zurückweisung selbst. Sondern dadurch, dass das Gefühl nach der Abweisung nicht seiner Vorstellung eines tiefen Liebesschmerzes entsprach.

Es war nicht TIEF genug.
Große Hoffnungen setzte er in die Erhabenheit der Kunst. Große Kunstwerke zogen seine Erwartungen magisch an. Aber die Bilder, die er in den Museen der Welt betrachtete, waren nur schön. Gut gemalt. Manchmal sogar wunderbar.

Was er jedoch  vermisste, war eine über alles erhabene Großartigkeit!
Als er zum ersten Mal das Meer sah, war er enttäuscht, weil es einen Horizont gab, der die Unbegrenztheit begrenzte. Er hatte es sich vollkommen ENDLOS vorgestellt!

Mit DER KRISE geht es uns ein wenig so wie diesem Herren aus dem melancholischen  Universum von Thomas Mann? DIE KRISE, jenes fantastische Monstrum, das uns seit 2008 beherrscht (umtreibt, den Schlaf raubt, so gut wie alle Unterhaltungen beherrscht), enttäuscht uns gleich in zweierlei Hinsicht:
ERSTENS sind wir enttäuscht, dass alles nicht einfach so weiterging, wie wir es von „der guten alten Zeit” gewohnt waren. Dass das Bruttosozialprodukt nicht einfach Jahr für Jahr um, sagen wir, 2,5 Prozent zunahm. Was bedeutete, das unser Bank- und Vermögenskonto sich mindestens fünf, wenn nicht zehn Prozent vermehrte….

Allerdings: haben wir nicht die ganze Zeit schon geahnt, dass das so kommen würde, nein kommen MÜSSTE?
Zweitens sind wir jedoch aus einem „Lido-Grund” enttäuscht: Wir hatten uns „eine solche Krise” irgendwie anders vorgestellt.

Da sind die inneren Bilder in unserem Kopf. Verarmte Menschen in Suppenküchen. Revolutionen. Kriege. Hunger. Bürgerkrieg. Ist es nicht DAS, was echte Krisen ausmacht?
Muss es nicht noch DRASTISCHER kommen, damit…

Damit was? Damit wir RECHT haben! In unserer Vermutung, dass Menschen im Grunde DUMM sind… gierig… unfähig…

Es gibt auch einen „Negativitätsgewinn” der Krise. Wir können jetzt endlich ABRECHNEN.  Mit den Spekulanten, Geldgierigen, Unmoralischen, Nutznießern, Schmarotzern. Wir haben es immer schon gewusst, sagt der apokalyptische Spießer in uns. Das Wohlstand, Zivilisation nur dünne Häute über einem Meer von Dummheit und Unverstand sind.

„Das einfachste Vergnügen ist die moralische Empörung”, sagt Augustinus. Allerdings haben wir ein Problem. Der Bürgerkrieg ist noch nicht ausgebrochen. Verwirrt nehmen wir zur Kenntnis, dass alle Straßenbahnen weiter fahren. Die Banken haben geöffnet. Die Restaurants sind bisweilen voller als vorher. Die Flugzeuge ein wenig leerer, was auch angenehm sein kann.

Wir ahnen plötzlich, dass „Ent-Täuschung” einen seltsamen Doppelsinn aufweist. Hätte es nicht drastischer kommen müssen? Ist das wirklich „Die Krise”? oder nur ein Vorspiel für das eigentliche Drama? Wie schrieb Friedrich Nietzsche (2) so schön über das Lebensgefühl der bürgerlichen Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert?: „Wir haben wahrscheinlich alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht hingehörten; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und Tischnachbarschaft entsteht – den Nachtisch-Ekel.”

In der Krise zeigt sich die wirkliche Einstellung der Menschen zum Leben. Wollen sie einen auf ewig sicheren Ort, eine Verwöhnung, deren Nichtexistenz sie mit einem beleidigen Fluch auf die ganze Menschheit beantworten? Oder sind sie sich bewusst, dass Kontinuität und Sicherheit eben nicht durch das GLEICHE, das STARRE einstehen, sondern NUR durch Wandel, Flexibilität, Verwandlung, durch das „Atmen und den Tanz der Geschichte”.

Wolfgang Büscher hat das neulich in der ZEIT so schön ausgedrückt, dass man es wiederum nur zitieren kann:
„Ohne Rohstoffkrisen aller Art keine neuen Produkte, keine chemische Industrie. Ohne Botschaftsflüchtlingskrise im Sommer 1989 kein Mauerfall im Herbst. Ohne Goethe-Krise keine Flucht nach Italien, keine Römischen Elegien. Ohne Saulus-Krise kein Paulus. Ohne Bush-Krise kein Obama. Meistens heißt Krise: So geht es nicht weiter. Vielleicht geht es ja anders weiter. Dass Neues nicht aus ökonomisch-kulturellem Völlegefühl kommt, kann man an den satten, selbstmitleidigen achtziger Jahren sehen. Vieles, was wir als feste Errungenschaften betrachten, verdankt sich der Krise – und mehr noch dem Impuls, sie nicht das letzte Wort haben zu lassen.”

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(1) Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann und andere Novellen. S. Fischer Berlin 1909

(2) Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Neuntes Hauptstück: Was ist vornehm?

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