Der Statuspanik-Quatsch

Es ist immer das gleiche Muster. Kurz vor der Sauregurkenzeit veröffentlicht ein Institut, das unter MADS (Mediales Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom) leidet, eine „Studie”, die beweist: Der Mittelschicht, uns allen, geht es schlecht. Das haben wir immer schon geahnt. Sofort runzeln sich die Stirnen der Nachrichtensprecher, und der Text zur besten Sendezeit lautet: „Die Mittelschicht zerbricht!” Nun kommt die immer irgendwie nach Deutsche Wochenschau (1956) klingende Sorgenorgel des SPIEGEL mit dem berühmten A-Wort zum Einsatz: „Im Herzen der deutschen Gesellschaft herrscht ANGST.” (O-Ton).

Als nächste Stufe tritt der so genannte Fussgängerzonenbetroffene auf den Plan. Der sagt von Flensburg bis Garmisch immer brav das in die Kamera, was von ihm erwartet wird: Dass er seinen Gürtel ganz verarmt enger schnallen muss. Dass die Politiker schuld sind und niemand um den „kleinen Mann” kümmert. Nun wird vom Boulevard ein Katastro-branding fabriziert – ein Wort erfunden, das etwa so klingt wie „Schweinegrippe” oder „Waldsterben”. In diesem Fall: „Statuspanik”. Im Finale fackeln die Anne Wills und Plasbergs das Thema unter Talkshow-Titeln wie VERARMT UND TOTAL FERTIG oder HARTZ FÜR ALLE – ENDE DES WOHLSTANDS! ab.

Nein, leider kein Titanic-Titelbild. Sondern das Standard-Niveau unserer Zukunftsdebatten.
Wer die am Montag veröffentlichte Studie des DIW nüchtern analysiert, merkt, auf welches Niveau unsere sozio-ökonomischen Debatten inzwischen gefallen sind. Die Anzahl der Geringverdiener schwankt zyklisch – nach Fall der Mauer nahm sie zu, von 2005 bis 08 nahm sie ordentlich ab; die vielgeschmähten neuen Sozialgesetze begannen zu wirken. Im Konjunktureinbruch des letzten Jahres nahm sie wieder etwas zu. Armut wird ab 60 Prozent des mittleren Einkommens gemessen. Wenn der Wohlstand steigt, steigt also auch die Schwelle zur Armut. Die „Reichtums-Grenze” liegt derzeit bei einem Monatseinkommen von knapp 4000 €. Als skandalös und „spaltend” wird interpretiert, dass eine erhebliche Anzahl von Menschen trotz Krise ihr Einkommen steigern konnte. Denunziert wird hier im Grunde Aufwärtsmobilität.

So wird in den Köpfen das Bild einer Klassengesellschaft zementiert, die längst nicht mehr der Wirklichkeit entspricht. In einer differenzierten Gesellschaft gibt es wohlhabende Menschen, die von wenig Geld leben – zum Beispiel Studenten, Künstler, Kreative. Es gibt Reiche mit erheblichem sozialen Engagement. Mehr als das Einkommen entscheiden Bildung und soziale Kompetenzen über Zukunfts-Chancen. Dass Bürger mit einer längeren Berufsexistenz tatsächlich dauerhaft in Armut abrutschen, kommt nach allen Erkenntnissen der Armutsforschung nur selten vor. Aber den Lobbyisten der Angst ist das schnurzegal. Sie merken nicht, dass sie unsere kostbarste Ressource verbrauchen: gesellschaftliches Vertrauen. Dass sie einer Infantilisierung der Gesellschaft Vorschub leisten, in der jeder einzelne sich irgendwann als Opfer geriert. Wer ständig auf dem Schiff, auf dem wir gemeinsam in die Zukunft fahren, „Feuer” ruft, der verursacht Verheerung, auch wenn es gar nicht brennt. Am Ende steht das, wovor ständig gewarnt wird: die Desintegration der Gesellschaft.

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