Der Kick der Selbstgerechtigkeit

Moralismus sucht auch nach der eigenen Entlastung. Er wird schnell reaktionär und macht blind für die reale Welt.

Haben Sie das schon gelesen? Unerhört! Die Deutsche Bank lässt auf Leichen wetten! Nun, ja, vielleicht ist das doch nicht ganz genau so, aber irgendeine ungeheure Schweinerei wird das wohl sein, wenn ein Fonds auf die Lebenszeit von Lebensversicherungshaltern „spekuliert”. Wahrscheinlich geht es darum, arme, unschuldige Menschen frühzeitig um die Ecke zu bringen. Kann ja gar nicht anders sein im Finanzkapitalismus. Da fällt einen gleich das Endlos-Mantra von Oskar Lafontaine ein: Die Banken an die Kette legen! Die Banken an die Kette legen!

Warum machen Moral-Skandale so süchtig, wie man es beim „Wulffismus” wieder sehen konnte? Wenn sich die öffentliche Meinung einmal moralisch entzündet hat, sucht sie in jeder Ecke nach dem nächsten Opfer. Aber das geschieht wohl kaum, weil wir plötzlich alle den Pfad der Läuterung suchen. Sondern weil in jedem Entrüstungs-Skandal ein wunderbarer Kick der Selbstgerechtigkeit entsteht. In einer Gesellschaft der Schnäppchenjäger und Vorteilsannehmer, der Upgrader und Steuerverschieber ist es entlastend, diese illustren Eigenschaften auf „die da oben” (oder „die da unten” in Griechenland) zu übertragen. Wer hat bislang genauer nachgefragt, auf was seine Fonds oder Spareinlagen spekulieren? Wenn andere einen zu großen Audi fahren, wirkt der eigene SUV plötzlich wie ein Klimaschoner…

Moral ist im Wesen individuell

Moral hat immer etwas mit persönlicher Integrität zu tun. Anders als Ethik kann sie öffentlich nicht wirklich diskutiert werden; sie ist im Wesen individuell. Als Moralismus, als öffentliche und kollektive Attitüde, wird Moral schnell reaktionär. Sie mutiert zur Zeigefinger-Geste, zum wohlfeilen Beißreflex, der vor allem die Abwertung anderer zum Ziel hat.

Moralismus sucht in der Absolutierung von Prämissen die eigene Entlastung. Die Geschichte der katholischen Kirche erzählt ein Lied davon, wie sich dies zur Tarnung eigener Sünden nutzen lässt. Gesinnungskulturen neigen immer zu Grobheiten, die sich nun leicht legitimieren lassen – schließlich geschieht alles nur im Namen des Wahren und Guten. Positive Veränderungen selbst hingegen scheren sich selten um die Motive ihrer Entstehung. Die bösen Rating-Agenturen haben Europas Integration und die Qualität der europäischen Politik wahrscheinlich weitergebracht als alle moralischen Sparappelle zusammen. Die Hartz-Gesetze waren, trotz aller Umsetzungsfehler, die sinnvollste Reform des Sozialstaats seit Jahrzehnten. Diese Erkenntnis ertrank allerdings in einem Meer moralistischer Erregung – mit fatalen Konsequenzen für die Diskursfähigkeit der Gesellschaft.

Blind für die reale Welt

Moralismus macht, als Nebenwirkung, blind für die reale Welt. Wir haben keine Ahnung, was wirklich in Griechenland passiert – ob sich dort tatsächlich die Gesellschaft umformt, ob neue Kräfte eine modernere Gesellschaft schaffen oder nicht. Denn die Bilder und Berichte werden lediglich in der Intention ausgewählt, uns darin zu bestätigen, dass „die Griechen” gar nicht in der Lage sind, normale Bürger, Europäer und Steuerzahler „wie wir” zu werden. Nach dem 2. Weltkrieg erließen Griechen und Amerikaner übrigens 50 Prozent der (west)deutschen Schulden, um den Deutschen die Chance auf einen Neuanfang zu geben.

Das war klug, nicht moralistisch. Vor allem hat es einfach funktioniert.

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