Das postfaktische Zeitalter

Leben wir tatsächlich in einem Zivilisationsbruch?
Und was folgt daraus?

The world is full of complainers.
But the fact is – nothing comes with a guarantee.
Detektiv in the Film “Blood Simple”

And why, after all, may not the world be so complex as to consist of many interpenetrating spheres of reality, which we can then approach….
by using different conceptions and assuming different attitudes.
William James, 1842-1910

Im November erklärte das Oxford Dictionary „Post Truth“ zum Wort des Jahres. Im Deutschen heißt es “Postfaktizität”. Aber was bedeutet das?

Jedenfalls lässt sich das Phänomen des Hass- und Erregungs-Populismus nicht ausschließlich in den Kategorien der Politik begreifen, auch nicht in sozialen Kategorien – etwa als Aufstand der Unterklasse. Es geht um eine tiefgreifende Veränderung individueller und kollektiver Wahrnehmungsstrukturen. Um diesen Wandel zu verstehen, müssen wir das Phänomen aus ungewohnten Perspektiven betrachten: Aus der Individual- und Gruppenpsychologie. Aus der Semantik der Medien. Und aus der tiefen evolutionären Vergangenheit des Menschen.

Kurz vor drei Uhr am Sonntag, den 4. Dezember 2016, betrat ein 28jähriger Mann mit weit aufgerissenen Augen die Pizzeria Comet Ping Pong in Washington. Er richtetet sein Gewehr auf einen Angestellten und schrie, dass er „sofort den F*** Keller sehen wolle!“.
Während die Gäste aus dem Lokal rannten, feuerte er einen Schuss in die Decke. Die Sicherheitskräfte, die den Mann kurz darauf überwältigten, fanden weitere Waffen in seinem Auto.

Der Mann wollte „die Wahrheit” über den „Pizzagate”-Skandal herausfinden. Unterstützer von Donald Trump hatten dieses Gerücht während des Wahlkampfes mit zweideutig-eindeutigen Nachrichten geschürt. Hillary Clinton, so verdichtete sich die Verschwörungstheorie im Netz, betrieb vom Keller dieser Pizzeria aus – der Besitzer war ein Unterstützer der Demokraten – einen Porno- und Pädophilenring. Hinweise dafür fänden sich ganz klar auf der Speisekarte, die geheime Codewörter enthielt. Wie «cheese» für «kleines Mädchen», und «sauce» für Orgie…

Im September 2016 nahm Angela Merkel das merkwürdige Wort zum ersten Mal in den Mund: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten”, sagte die kühle, weitgehend fakten-zentrierte Physikerin mit sichtbarerer Verunsicherung. „Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern folgen allein den Gefühlen”.

Seitdem hat das Wort eine steile Karriere hinter sich. Aber was soll „postfaktisch” überhaupt heißen? Vor allem zwei akute Phänomene sind zunächst gemeint:

Diktatur der Erregung:
Bislang wurde Politik von langfristigen Milieubindungen, Werten und Interessen bestimmt. Doch seit Kurzem erscheinen Wahlergebnisse vollkommen erratisch. Die Dynamik des Politischen scheint sich der von Virus-Epidemien anzugleichen, ihre kulturellen Formen entsprechen denen des shitstorms im Internet. Wie es neulich ein Diskutant in einer deutschen Talkshow formulierte: „Man hat das Gefühl, es ist alles lauter Irrsinn hier!”.

Propaganda der Lüge:
„Postfaktisch” bedeutet gleichzeitig die Rückkehr despotischer Macht mit Hilfe propagandistischer Strategien. Überall auf der Welt versuchen Despoten, Halb-Diktatoren, nationalistische Politiker, durch mediale Verwirrungs-Techniken die öffentliche Meinung zu manipulieren. Die neuen Kriege sind Gerüchte- und Meinungskampagnen, die das Gefühl ständiger Unsicherheit und Unklarheit verbreiten.

Der Politikberater Daniel Dettling hat in seinem Text „Neo-Politik” im Zukunftsreport 2017 die fünf Punkte der populistischen Grammatik zusammengefasst. Damit ist das Postfaktische auf einer kommunikativen Ebene abgedeckt:

  1. Personalisieren und dramatisieren, wo immer es geht.
  2. Einfache Nachrichten werden den komplexen vorgezogen.
  3. Ausgewählt werden nur die Ereignisse, die eine räumliche, zeitliche und kulturelle Nähe zum Publikum haben.
  4. Schlechte Nachrichten sind besser als gute.
  5. Erregende, sensationelle Sachverhalte haben Priorität.

Wie aber konnten diese Muster so überwältigend werden, dass sie die ganze Welt zu verändern scheinen?

Das weltkonstruierende Hirn

Haben sich Menschen sich jemals nach „Fakten” gerichtet? Das ist eine heikle Frage. Denn was sind eigentlich Fakten? „Gesicherte Informationen“? Keineswegs, denn Informationen sind bedeutungslos, wenn sie sich nicht an „semantische Marker” binden – an emotionale Markierungen in unserem Hirn. Fakten sind Informationen, an die wir GLAUBEN, weil sie eine BEDEUTUNG für uns haben. Wie aber werden diese Bedeutungen konstruiert?

Vergegenwärtigen wir uns jene Umwelt, in der unser menschliches Hirn evolutionär geformt wurde – vor etwa 2 Millionen Jahren. 97 Prozent aller Menschen-Zeit auf dem Planeten Erde lebten unsere Vorfahren als Jäger und Sammler in prekären, lebensbedrohlichen Umwelten. Sowohl die sesshafte agrarische Kultur als auch die Industriegesellschaft mit ihrem Überangebot an Waren und Sicherheiten sind lediglich ein kurzer Strich in der Geschichte der Menschheit.

Unser Hirn ist darauf optimiert, in möglichst effektiver Weise Muster zu erkennen, die bei der Überlebensentscheidungen helfen: Flüchten, Kämpfen, Verhandeln. Die Bewegung, die der Wind im Gras macht, und die ein Raubtier im Gras hinterlässt, muss deutlich voneinander unterschieden werden können. Dabei geht es nicht um „Wahrheit” – das würde viel zu lange dauern – sondern um „Wirksamkeit”. Wir müssen spontan entscheiden können, „aus dem Bauch heraus”. Es ist wichtig, dass wir an Bewegungen, Gesichtern, Physiognomien, Gesten erkennen können, ob uns von anderen Menschen Feindschaft droht. Hier sind allzu viele Informationen und Details eher hinderlich. Deshalb hat unser Hirn ein elegantes Rausch¬unterdrückungs¬System entwickelt.

Die Verhaltensbiologen Erich von Holst und Horst Mittelstaedt fanden im Jahr 1950 das „Reafferenz-Prinzip” Wenn wir eine Video-Kamera vor uns hertragen, wackelt die Welt aufs Fürchterlichste. Mit unseren eigenen Augen nehmen wir beim Laufen jedoch eine kontinuierliche Wirklichkeit wahr.

„Organismen mit zentralem Nerven¬system”, schreiben Holst und Mittelstaedt, „haben die Fähigkeit, ungenaue oder wechselnde oder nicht erwartbare Reize zu verarbeiten, dass ein verarbeitungs¬fähiges Bild der Welt entsteht, ein analoges Bild, dessen Tiefenschärfe sich in „glatten” Funktionen abbilden lässt. …. Wahrnehmung folgt eher pragmatischen als prinzipiellen Motiven, muss also funktionieren, nicht begründbar sein.” (zitiert nach Armin Nassehi, Die letzte Stunde der Wahrheit, S. 169).

Was humane Hirne am allermeisten hassen, ist Unsicherheit, Uneindeutigkeit. Emotionen sind nichts anderes als mentale „Tools” gegen Unschärfe. Gefühle sind jene Steuerungselemente, die in unsrem Hirn die entscheidenden MARKER setzen. Damit wir beim nächsten Mal nicht mehr den Pfad des Löwen kreuzen, wird die Informationen durch Gefühlsverstärkung regelrecht „eingebrannt”.

In der Welt der Unsicherheit haben wir gelernt, den stärkeren Narrativen zu folgen. Man stelle sich das Stimmengewirr auf einer Jäger-und Sammler-Versammlung vor, in der es um den möglichen Angriff eines Nachbarstamms ging. Zugehört hat man wohl immer dem mit der lautesten Stimme, der drastischsten Geschichte, dem über-triebensten Plot. Gerade wenn man in den hinteren Reihen stand. Die heutige Medien¬welt mit ihrem vielschichtigen, immer schriller werdenden Stimmengewirr ähnelt der Situation in einer überfüllten Steinzeit-Siedlung, in der alle durcheinander¬schreien und nicht wissen, wo sie hinrennen sollen.

„Awfulizing”: Die innere Programmierung des Negativen

Bitte lassen Sie sich auf einen Selbstversuch ein. Versuchen Sie einmal, einen Tag ohne „Awfulizing” auszukommen. Ohne die Behauptung, dass irgendetwas „awful” – grässlich, furchtbar, schlimm, entsetzlich, scheußlich, elend – geworden ist. Dass es nicht mehr so ist wie früher. Und wahrscheinlich demnächst noch schlechter werden wird…

Im Jahr 2007 starteten die US- Designer Thierry Blancpain and Pieter Pelgrims eine experimentelle Initiative. Das „Complaint/Restraint Project“. Ein Monat lang verpflichteten sich die Teilnehmer, sich weder beklagen noch zu beschweren, weder sich zu fürchten noch zu jammern. Die Wenigsten schafften es. Aber viele hatten ein Aha-Erlebnis: Unsere ganze Existenz besteht inzwischen aus Befürchtungs- und Beklagungs-Routinen, die wir auf paradoxe Weise umso mehr genießen, je besser es uns geht.

Der verstorbene deutsche Philosoph Odo Marquard hat sich mit diesem Phänomen der „Wohlstandsverzerrung” beschäftigt. Er spricht vom Fahrstuhleffekt: Je höher wir in der Kabine (des Wohlstands) nach oben steigen, desto tiefer scheint die Welt abzusacken. Man kann es auch das „Prinzessin-auf-der-Erbse“-Syndrom nennen:

„Wo Kulturfortschritte wirklich erfolgreich sind und Übel wirklich ausschalten, wecken sie selten Begeisterung; sie werden vielmehr selbstverständlich, und die Aufmerk¬samkeit konzentriert sich dann auf die Übel, die übrig bleiben. Dabei wirkt das Gesetz der zunehmenden Penetranz der Reste: Je mehr Negatives aus der Welt verschwindet, desto ärgerlicher wird – gerade weil es sich vermindert – das Negative. Knapper werdende Übel werden negativ kostbarer…“

Negativität, die unaufhörliche Behauptung, die Welt werde „immer schlechter”, scheint uns eine Art innerer Daseinsberechtigung zu verleihen. Ich klage, also bin ich! Das Awfulizing-Hirn befindet sich in einer ganz bestimmten Erregungs-Spannung, die es dazu veranlasst, in jedem kleinen Anzeichen einen BEWEIS für die nächste Negativität zu sehen. Dabei werden übliche und notwendige Differen-zierungen gekappt und Kausalitäten im Sinne der Negativität umgedreht. Dass korrupte Manager verurteilt werden, ist eigentlich ein Zeichen für das Funktionieren des Kontroll-Systems. Im Awfulizing-Modus ist es nur Beweis für die „zunehmende Korruption”. Dass ein Ausländer ein Verbrechen begann, BESTÄTIGT das Gefährlich sein von Ausländern. Dass der Partner müde ist, BESTÄTIGT seine Ablehnung und Ignoranz…

Das, was negativ passieren könnte, was schiefgehen könnte, sehr wahrscheinlich nicht funktionieren wird, ist bei älteren Menschen oft ein zentraler Lebensinhalt. Die über-vernetzte Gesellschaft verschiebt dieses Gefühl in den Alltag der Mehrheit und führt zu einer Art VERGREISUNG DER ÖFFENTLICHEN MEINUNG. „Awfulizing” ist heute eine regelrechte mentale Epidemie geworden. Ständige Negativitätserwartung hat auf Dauer aber fatale Folgen – für zwischenmenschliche Beziehungen. Der Partner-Therapeut John Gottman aus den USA hat in zahlreichen Studien und Tests nachgewiesen, wie negative Konversation jede Liebe zerrüttet. Viele Partnerschaften scheitern an „Awfulizing”-Phänomenen: Schlechtmachen und Kritisieren, Ansprüche stellen im ständigen Vergleich zu dem, was man vom Partner erwartet hat.…
Die Liebe fällt so in einen Zustand des „Expectation Hangover” einen Erwartungs-Kater, der zu gleichzeitig immer höheren Ansprüchen führt.

Awfulizing

© Matthias Horx

Man könnte diesem „Schlechterismus”-Mechanismus als eine Art Slot-Maschine der Selbst¬beängstigung darstellen. Oben füllt man eine Erregung – oder Angst-bereitschaft hinein, unten kommt eine talkshowfähige Hysterie heraus. Die Wege, die man in diesem Angstmach-Generator zurücklegt, sind nahezu beliebig. Im obigen Schaubild sind die wesentlichen Narrative der Angst dargestellt. Beliebiges bitte aussuchen! Und immer noch eine weitere Befürchtung oben drauf legen!

Mediale Hysterien: Die Gesetze der Aufmerksamkeits-Ökonomie

Schon in den Neunzigern des 20. Jahrhunderts beginnt ein tiefgreifender Struktur-wandel der medialen Öffentlichkeit. In den klassischen Print- und TV-Medien vermehrt sich Schritt um Schritt der polarisierende, negative, ideologische Tonfall. Misstrauen gegen Komplexität, gegen „Eliten”, die Sehnsucht nach einfachen, unterkomplexen Lösungen – all das begann schleichend in einer ständigen Steigerung des Verdachts und der Angst¬bereitschaft. Der Grund für diesen „Fear Shift” lag weniger in einem Zeitgeist-Wandel – zur Jahrtausendwende hin waren die westlichen Gesellschaften noch weitgehend zukunfts-optimistisch. Es war die digitale Transformation des medialen Systems selbst, die diesen Pfad eröffnete.

Aufmerksamkeit ist in einer hypervernetzten Informations- und Medienkultur der zentrale knappe Rohstoff. Weil sich die Medienkanäle durch das Internet explosions¬artig vermehrten, kam es zu einer radikalen Konkurrenz um diese kostbare Ressource. Dabei ist Reizsteigerung das wirksamste Mittel. Wie ließe sich Reiz¬steigerung besser bewerkstelligen als in der Form von Angst, Polarisierung, und Skandalisierung?

Der SPIEGEL, angetreten als „Kampfblatt der Demokratie” entwickelte sich unter dem Druck der Medienkonkurrenz zu einem Blatt mit mehr und mehr düsteren, alarmistischen Artikeln. Die öffentlich-rechtlichen Politik-Talk-Shows drifteten in Richtung auf polarisierende Streit- und Erregungs-Shows, in denen es vor allem um Einschaltquoten ging – das Endresultat dieses Trends kann man im amerikanischen Fernsehen besichtigen. Auch der zynische Ton, der spätestens seit Harald Schmidt in die zahlreichen Kabarett- und Comedy-Shows diffundierte, trägt einen Keim des Populismus in sich. Was ist die Botschaft der HEUTE SHOW? Dass die Reichen Trottel und alle Politiker sowieso lächerliche Idioten sind. Das ist lustig, allerdings, in zynischer Überdosis ist es aber auch Wegbereiter der populistischen Krankheit.

Wenn der STERN in seiner ersten Dezemberaufgabe auf dem Titelbild die Parole „Die Lüge von der Gerechtigkeit“ trägt, dann zeigt das, wie sehr Kritisch sein und Populismus inzwischen konvergieren. Der Begriff “LÜGE” erzeugt genau jene Aufwallung der Gefühle, die im postfaktischen Universum dominiert. Gerechtigkeit ist ein äußerst komplexes Thema, das jede Menge innerer Widersprüchlichkeiten birgt. Gleichheit kann furchtbar ungerecht sein, Umverteilung Ungleichheit fördern. Wenn „Gerechtigkeit” mit LÜGE assoziiert wird, wird die Gesellschaft selbst zur Verschwörung umcodiert.

Im Rahmen des medialen Awfulizing entstanden düstere Untergangs-Narrative, die heute zum „common sense“ geworden sind. Hier einige Beispiele.

  • Die Renten sind nicht mehr sicher, die Alterung muss die Gesellschaft ruinieren.
  • Es droht in jeder beliebigen Zukunft auf jedem Falle Massenarbeitslosigkeit durch Digitalisierung und Neoliberalismus – auch wenn wir die höchste Beschäftigungsrate aller Zeiten haben.
  • Wirtschaftliche „Eliten” und Politiker sind korrupt, unfähig, schwach, sie können nur „faule Kompromisse” schließen und „in Hinterzimmern mauscheln”.
  • Die Bundesbahn ist ein Haufen unfähiger Beamter, die keinen pünktlichen Fahrplan hinbekommen.
  • Europa ist am Ende, der Welt geht es immer schlechter.

Man könnte zu jeder dieser „bad stories” gewichtige Gegenargumente, Differen-zierungen bringen: Die Alterung erweitert unsere Lebensmöglichkeiten, Computer entlasten uns von stupiden Tätigkeiten und erlauben uns das Komplexere, das deutsche Zugsystem ist nicht perfekt, aber ganz passabel, Europa hat auch vieles erstaunlich bewältigt etc. Aber sitzt das “awfulizing”-Mem einmal in den Köpfen, wird es entsprechend der „confirmation bias” unentwegt bestätigt – man nimmt nur noch Meldungen oder Meinungen wahr, die das Negative bestätigen.

Vielleicht handelt es sich bei der Epidemie des Hass-Populismus um einen Zusammen¬bruch des kollektiv-mentalen Immunsystems. Angesichts der ewigen Negativität bricht die Fähigkeit, Dinge differenziert und hoffnungsvoll zu sehen, in sich zusammen. Nach Myriaden von Verängstigungen und Horrorgeschichten – auch der wöchentliche Killer-Tatort gehört dazu – zerbricht die Konsistenz der Welt. Populismus ist ein Nervenzusammenbruch im Echosystem der kollektiven Kommunikation.

Das Resonanzprinzip

In seinem Grundwerk „Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehungen” hat der deutsche Soziologe Hartmut Rosa die Schwingungen beschrieben, die uns als Menschen mit der Welt verbinden. Wenn wir geboren werden, sind wir auf den Blick und die Zuwendung der Eltern angewiesen. In den Stürmen der Pubertät suchen wir Bestätigung in der Clique. Als Erwachsene bleiben wir nur lebendig und gesund, wenn wir in ein dichtes Netz von Freunden, Familie, Arbeit, Sinn eingebunden sind. Menschen sind Beziehungswesen, die in ihrer ganzen Existenz darauf angewiesen sind, wahrgenommen und angenommen zu werden.

Gesellschaftliche Hysterien, kollektive Paranoia-Phänomene, gab es immer schon. Der Historiker Joachim Radkau beschrieb unlängst in der ZEIT („Volk unter Strom” 15.12.2016) die populistischen Übertreibungs-Phänomene vor einem Jahrhundert im Kaiserreich, dem „Zeitalter der Nervosität”.
„Neurasthenie“ hieß damals eine weitverbreitete Diagnose – ein nervöses Zittern angesichts der Zeitläufe. Damals ging eine ähnliche Angst vor den „überschnellen Weltverhältnissen” um, es herrschten Verschwörungs-Theorien und Schuld-zuweisungen. Heute haben wir allerdings einen ganz besonderen Beschleuniger kollektiver Emotionen zur Verfügung: Den gigantischen Resonanzraum des Internet.

In diesem Sinn ist „Postfaktizität” eine Art Resonanz-Katastrophe, die im Zusammen¬spiel unerlöster Gefühle und neuer Technologien besteht. Folgen wir der Resonanz-These von Hartmut Rosa, dann sind die zentralsten Bedürfnisse des Menschen ZUGEHÖRIGKEIT und WIRKUNG. Tatsächlich haben alle aktuellen Konflikte und Krisen mit dieser Frage zu tun: Zu wem gehören wir? Werden wir akzeptiert, wahr¬genommen, gewertschätzt? Wer setzt uns herab? Die Kämpfer des IS berufen sich immer wieder auf die Herabsetzung „des Islam” durch „den Westen”. Trumps Anhänger fühlen sich durch die urbanen Eliten beleidigt. Putins Bürger halten zu ihrem neuen Zaren, weil sie sich als Opfer einer Geschichte empfinden, in sie die Opfer bringen, aber die Vorteile nicht genießen konnten. AFD-Anhänger sowie alle anderen National-Populisten fühlen sich durch kulturelle Pluralität und Globalität in ihrer “Identität” beleidigt.

Populismus ist die Droge derjenigen, die sich nicht gewollt und sicher gebunden fühlen. Die verletzte Liebe erzeugt auf schnelle Weise ein neues, exklusives Wir, das alle anderen als Feinde und Ignoranten definiert und starke Bindungskräfte ent¬wickelt. Der Verhaltenspsychologe Paul Bloom nennt das den „Pathologischen Altruismus”.

„Empathie und Ärger haben vieles gemein. Beide entstehen in der frühen Kindheit und existieren in jeder Gesellschaft. Beide sind sozial. Und sie sind beide moralisch….
Wenn wir uns über die irrationalen, willkürlichen und selbst-destruktiven Eigenschaften des Ärgers Gedanken machen, sollten wir eine Menge Intelligenz, Selbst-Kontrolle und Sinn für Gerechtigkeit entwickeln.”

Paul Bloom, Against Empathy, bostonreview.net/forum/paul-bloom-against-empathy

www.theatlantic.com/video/index/474588/why-empathy-is-a-bad-thing

Und die Zukunft?

Sind wir also dazu verdammt, die Geschichte zu wiederholen, weil der ewige Zorn, der dumpfe Hass, die soziale Regression, am Ende immer siegen? Befinden wir uns in einer Art Schleifen-Universum, wie Tom Cruise in „Edge of Tomorrow” oder Billy Murray in „Ewig grüßt das Murmeltier”, in dem wir immer die Trümmer aufräumen müssen, die nach dem nächsten großen Krieg entstehen?

Auch wenn die Geschichte dazu neigt, sich zu reimen, wie Mark Twain anmerkte – sie wiederholt sich nicht. Die heutigen modernen Gesellschaft sind um ein Vielfaches komplexer und resilienter als die fragilen Gesellschaftssysteme des Früh¬industrialismus. Die inneren Kohärenz- und Selbstorganisationskräfte sind ungleich stärker.

Auch der Hass-Populismus lässt sich ent-katastrophieren. Er entstammt einer Pathologie der Gefühle, die aber zugleich Heilungskräfte der Hoffnung hervorbringt. Wie in einem menschlichen Körper kommt es auch in Gesellschaft und Kultur¬systemen bisweilen zu Fieberschüben und hysterischen Übertreibungen.

Was helfen kann, sind Unterbrechungen eingeübter Denk- und Fühl-Routinen. Das „Postfaktische” zwingt uns dazu, unsere eigenen Zukunfts-Parameter zu überprüfen. Ist die stetige Beschleunigung durch Technologie tatsächlich das innere Movens der Zukunft? Sind die Blütenträume einer „always-on”-Gesellschaft wirklich erstrebens¬wert? Hat das Internet in seiner jetzigen Form womöglich mehr Nebenwirkungen als segensreiche Funktionen? Brauchen wir radikal neue Kulturtechniken des Medialen – eine „Ethik des Ausschaltens”?

„There’s a crack, a crack in everything, that´s how the light gets in.“
So ein Refrain des vor kurzem verstorbenen Leonard Cohen. Unsere Vorfahren haben dadurch überlebt, dass sie ihre Wirklichkeits-Illusionen immer wieder revidieren konnten und neue Arten erfanden, auf die Welt zu blicken. Auf diese Weise entwickelte sich kognitive Komplexität. Wenn sich plötzlich etwas änderte – der Wind, das Klima, die Zugrichtung der Tiere, das Verhalten benachbarter Stämme – dann waren diejenigen unserer Vorfahren im Vorteil, die ihre mentalen Raster daran anpassen konnten. Das ist der Weg des evolutionären Lernens. Manchmal muss es wohl so sein, dass wir das Gefühl haben, die Welt nicht mehr zu verstehen. Wir sollten diese Unsicherheit aushalten und letztlich “umarmen”, nur dann kommen wir voran.

Nathalie Knapp - Der unendliche Augenblick

Siehe auch das Buch von Nathalie Knapp:
Der unendliche Augenblick – Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind.
Erhältlich auf www.amazon.de


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